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Die junge Regina Mingotti als Dresdner Primadonna, gemalt vom jungen Anton Raphael Mengs (Gemäldegalerie Dresden, Gal.-Nr. P 170, Foto: Wikipedia).

Advent in Ehrenbreitstein 19.12.1770

Am 19.12.1770, dem vierten Advent, bereitete sich Regina Mingotti in Thal Ehrenbreitstein auf die abendliche Akademie bei Hofe vor. Die berühmteste Sängerin Deutschlands feierte Weihnachten am Rhein.

Regina Mingotti am Rhein

von Karl Böhmer

Es waren verregnete, nicht gesegnete Weihnachten, auf die man sich im Koblenz des Jahres 1770 einstellte. Seit Wochen hatte es geregnet. Der Rhein trat über seine Ufer, das Hochwasser stand in den Straßen links und rechts des Stroms – und natürlich war die Residenz in Thal Ehrenbreitstein wieder einmal von der Stadt abgeschnitten, weil die „fliegende Brücke“ ihren Dienst eingestellt hatte. Die große Rheinfähre war die einzige Verbindung zwischen Hof und Stadt, so lange das neue Schloss in Koblenz noch nicht gebaut war. „Wie kann man in einem solchen Land Weihnachten feiern?“ dachte Regina Mingotti, die Primadonna assoluta der Opernhäuser in Madrid und London, Dresden und München. Am vierten Advent vermisste sie schmerzlich ihre bayerische Wahlheimat. In München hätte es schon längst geschneit. Kurfürstin Maria Anna hätte ihr einen fürstlichen Empfang in der Residenz bereitet. Man säße in prachtvollen, geheizten Räumen und plauderte über Musik. Hier aber saß man in einem alten, feuchten Schloss direkt am Rheinufer, unterhalb der düsteren Festung Ehrenbreitstein. Die Residenz des Kurfürsten und Erzbischofs von Trier hatte sie sich weiß Gott anders vorgestellt, als sie im Oktober hier angekommen war.

Zugegeben: Der junge Kurfürst Clemens Wenzeslaus verfügte über ein vorzügliches Hoforchester unter der Leitung seines Maestro Pompeo Sales, und dieser Sales hatte ihr in seiner Oper Il Re pastore eine so wunderschöne Partie auf den Leib geschrieben, dass sie sich in ihre Glanzzeiten zurückversetzt fühlte. Als „Hirtenkönig“ Aminta hatte sie im hübschen kleinen Theater des alten Schlosses alle Zuhörer bezaubert – zuerst am 30. Geburtstag der Prinzessin Kunigunde, dem 10. November, dann am Clemenstag, dem Namenstag des Kurfürsten. Obwohl sie von einer schrecklichen Kolik geplagt wurde, hatte sie alle Aufführungen im November mit eiserner Disziplin durchgehalten, denn für die beiden Königskinder aus Dresden, für „Mentzl“ und „Cundl“ alias Clemens und Kunigunde, hätte Regina Mingotti alles getan. Seit die beiden kleinen Enkel Augusts des Starken mit großen Augen in der Dresdner Oper gesessen und die göttliche Regina in Hasse-Arien erlebt hatten, nannten die Geschwister sie zärtlich „Fräulein Regerl“. Sie gehörte quasi zur Familie.

Hasse gegen Rheuma

Gemessen an der guten alten Zeit in Dresden ließ der Winter in Koblenz Einiges zu wünschen übrig. Sorgenvoll blickte die Sängerin auf die Wände ihres Zimmers im alten Schloss. Diese so genannte „Philippsburg“ war so feucht, dass nicht nur der junge Kurfürst am Rheuma litt, sondern auch seine Schwester, obwohl sie erst vor 16 Monaten hier eingetroffen war. Beide waren ungewöhnlich sportlich, ritten gerne, schwammen sogar und gingen spazieren, sie liebten die Jagd und die frische Luft. Doch was half es ihnen bei diesem scheußlichen Wetter? Ob die Menschen draußen im Elend ihrer überschwemmten Häuser ahnten, wie sehr selbst der Kurfürst und seine Schwester unter Feuchtigkeit zu leiden hatten? Alle saßen hier im selben Boot. Sie aber, Regina Mingotti, hielt einen Trumpf in der Hand, gegen den aller Unbill des Lebens machtlos war: die Musik. Wie hat Prinzessin Kunigunde im selben Advent so schön an ihren Bruder Franz Xaver in Italien geschrieben? „Wir vergnügen uns mit der Musik, sie ist unser einziger Trost, und Fräulein Regerl verlässt die Akademie nie, ohne drei oder vier Arien gesungen zu haben!“

Wie wahr: Sie, Regina Mingotti, die Offizierstochter aus Neapel, die bei den Ursulinen in Graz eine strenge Schule durchlaufen hatte, sie zierte sich nicht wie andere Damen ihres Fachs. Wo sich andere Primadonnen schon nach zwei Arien auffällig räusperten, legte sie im Brustton der Überzeugung noch zwei schwere Arien nach – so auch an jenem 19. Dezember.

Zum vierten Advent wählte sie die Stücke besonders sorgfältig aus: Wie wäre es – dachte sie – mit Arien aus Hasses Oratorien? Was könnte gegen winterliches Rheuma besser helfen als die sommerliche Arie vom schäumenden Meer aus den Pellegrini al Santo Sepolcro? Und was könnte zum Advent besser passen als die Heilige Helena, die auf der Suche nach dem wahren Kreuz Christi in Jerusalem vom göttlichen Licht erzählt, das sie auf ihrer Pilgerfahrt beseelt: „Raggio di luce / Del ciel discende / Che mi conduce, / Che il cor m’accende / Che di me stessa / Maggior mi fa!“ „Ein Strahl von Licht, vom Himmel gesendet, der mich leitet, der mir das Herz entzündet, der mich besser macht, als ich bin.“ Kurfürst Clemens kannte diese Arien natürlich längst aus Dresden, doch vielleicht würde es der Mingotti gelingen, ihn zu einer ganzen Spielzeit mit Hasse-Oratorien zu überreden. Für den Karneval war die Wiederaufnahme des Re pastore von Sales geplant. Danach aber kam die Fastenzeit mit ihren frommen Oratorien. Wie wäre es, in Ehrenbreitstein die großen Hasse-Oratorien aus Dresden aufzuführen – mit ihr, der legendären Mingotti in der Hauptpartie?

Feurige Italiener

Natürlich musste die Mingotti in jener Akademie am 19.12. auch Opernarien singen. Ohne Auszüge aus den großen Seria-Opern der italienischen Maestri wäre Kurfürst Clemens unzufrieden zu Bett gegangen. Wegen des Sturms, der gerade auf dem Rhein tobte, dachte die Mingotti an zwei besonders stürmische Arien von Galuppi und Traetta. „Tu me da me dividi“, die Arie der verzweifelten Prinzessin Aristea aus Galuppis Olimpiade, hatte sie 1756 unter dem tosenden Applaus der Engländer in London gesungen. „Che furia, che mostro“, die empörte Arie der Emira aus dem Siroe von Traetta, war im Karneval 1767 ihre letzte große Opernszene in München gewesen. Für Koblenz waren es genau die richtigen Stücke, um die Hofkapelle unter Sales ins Feuer zu bringen. Sie selbst konnte dabei zeigen, dass sie auch mit 48 Jahren noch nichts von ihrer Bühnenpräsenz und Strahlkraft eingebüßt hatte. Wieder einmal traf Prinzessin Kunigunde den Nagel auf den Kopf, als sie nach Ostern 1771 über die Mingotti schrieb: „Wenn sie die Gewohnheit zu singen einmal ablegen wird, dann sicher nicht wegen zu wenig singen! Aber ich weiß auch nicht, wie sie es macht: Sie scheint von Tag zu Tag besser zu werden.“

Mariengesang zum Weihnachtsfest

Die Schönheit ihres Cantabile hat die Mingotti der Koblenzer Hofgesellschaft im Re pastore von Sales zur Genüge unter Beweis gestellt. Doch auch die frommen Gemeinden in der Stadt und in Thal Ehrenbreitstein sollten dabei nicht leer ausgehen. Immer wieder ist sie zwischen November 1770 und April 1771 in Koblenzer Festmessen mit frommen Gesängen hervorgetreten – mal in einem lateinischen Motetto von Sales, mal im österlichen Regina Coeli von Hasse. Ob sie auch an Weihnachten 1770 im Gottesdienst gesungen hat, ist nicht überliefert. Doch was hätten sich die Koblenzerinnen und Koblenzer Schöneres wünschen können als Hasses Alma Redemptoris Mater, seine schmelzend schöne Marien-Antiphon zum Weihnachtsfest, mit der hinreißenden Mingotti?

Zum Hören:

Hasse: „Sent’il mar onnipotente“ aus I Pellegrini al Sepolcro
Gerard Lesne, Seminario Musicale
https://www.youtube.com/watch?v=N1biJofJwP8

Hasse: „Raggio di luce dal ciel discende“ aus Sant’Elena al Calvario
Romelia Lichtenstein, La stagione Frankfurt, Michael Schneider
https://www.youtube.com/watch?v=QOMHYKzHbj4

Galuppi: „Tu me da me dividi“ aus L’Olimpiade (London 1756)
Ruth Rosique, Venice Baroque Orchestra, Andrea Marcon
https://www.youtube.com/watch?v=BH8kkPt5FwM

Traetta: „Che furia, che mostro“ aus Siroe (München, Karneval 1767)
Vivica Genaux, Lautten Compagney, Wolfgang Katschner
https://www.youtube.com/watch?v=r9wgHEpeNj0

Hasse: „Virgo prius“, aus dem Alma redemptoris mater
Clint von der Linde, Les Muffatti
https://www.youtube.com/watch?v=DgvldKUP2Ms