Advent in Leipzig 2.12.1731
Es war, als bräche auf der Empore der Thomaskirche eine neue Epoche an: „Schwingt freudig euch empor“ riefen die Thomaner am 2. Dezember 1731 in den galanten Tönen ihres Kantors den Gläubigen zu.
Schwingt freudig euch empor
von Karl Böhmer
Da horchten sie auf, die Leipzigerinnen und Leipziger, als die beiden Oboi d'amore ihren jubelnden Gesang anstimmten und die Streicher dazu wirbelnde Triolen spielten. So galant bewegt, so freudig aufstrebend hatte noch keine Bachsche Adventskantate begonnen wie an jenem 2. Dezember 1731 im adventlichen Hauptgottesdienst der Thomaskirche. Kein dunkles a-Moll oder h-Moll, sondern strahlendes D-Dur! Dazu sangen die Thomaner in jubilierenden Läufen: „Schwingt freudig euch empor zu den erhabnen Sternen!" Gerne folgten die Gläubigen den auffliegenden Tönen gen Himmel, denn hier drohte keine Fuge, kein kunstvolles Gegeneinander der Stimmen. Die Sänger lockten die Zuhörer durch melodischen Gesang an – gerade so, wie es die beginnende galante Zeit von den Komponisten verlangte. Im zweiten Teil des Chores wirkt der Gesang noch ekstatischer: „Doch haltet ein! Der Schall darf sich nicht weit entfernen! Es naht sich selbst zu euch der Herr der Herrlichkeit!" Angesichts solcher Töne mag sich mancher Ratsherr gefragt haben, ob der Herr Musikdirektor nicht wie verwandelt war, seit er im September zu Dresden die Oper Cleofide des großen Hasse gehört hatte. Schienen seine Töne nicht wie angesteckt vom neuen Klang der galanten Zeit? Schon eine Woche zuvor, am so seltenen 27. Sonntag nach Trinitatis, hatte er die Leipziger mit einer allerliebsten Choralkantate überrascht: „Wachet auf, ruft uns die Stimme". War das der neue Bach? Würde er mit 46 Jahren noch einmal ganz neue Wege beschreiten?
Studenten ehren ihren Professor
Die Kenner unter Leipzigs Musikfreunden wussten freilich, dass sie den freudigen Eingangschor der Adventskantate schon mehr als einmal gehört hatten. Bach hatte ihn bereits im Frühjahr 1725 zu Ehren eines Dozenten der Universität komponiert, den seine Studenten hochleben lassen wollten. Die Cantata „Schwingt freudig euch empor" war ursprünglich ein Bachsches „Gaudaemus igitur“, bestehend aus dem Eingangschor und den drei Arien der späteren Adventskantate, aus diversen Rezitativen und einer abschließenden Gavotte. Dass der Herr Musikdirektor daraus gleich im folgenden Dezember eine Glückwunschkantate für den Fürsten von Anhalt-Köthen und dessen zweite Gemahlin machte, verstand sich im Sinne der Mehrfachverwertung von Gelegenheitswerken fast von selbst. Auch auf der Empore der Nikolaikirche war das Werk bereits in geistlicher Umdichtung erklungen, freilich in einer Fassung, die Bach sofort wieder zurückgezogen hatte. Nun erst – zum ersten Advent 1731 – dirigierte er die gründliche Überarbeitung als zweiteilige Adventskantate vor und nach der Predigt in der Thomaskirche.
Nun komm der Heiden Heiland
Erst 1731 entschloss sich Bach, zwischen Eingangschor und erste Arie die erste Strophe von Luthers Adventschoral „Nun komm der Heiden Heiland“ einzufügen, verwandelt in ein Duett für Sopran und Alt zur Begleitung des Basso continuo. Die Singstimmen laufen weitgehend im Kanon, wobei sie die vier Choralzeilen mit ausdrucksvollen Seufzern und dissonanten Vorhalten anreichern. Dazu hat Bach eine rhythmisch so komplexe Continuostimme erfunden, dass man sich fast in der Welt seiner großen Choralbearbeitungen für Orgel wiederfindet, zumal der archaische Klangeindruck dieses Choralduetts durch die beiden colla parte laufenden Oboen noch verstärkt wird.
Die Liebe zieht mit sanften Schritten
Auf die strenge luthersche Choralstrophe im herben fis-Moll folgt eine der lieblichsten Liebesarien, die Bach jemals ersonnen hat: die Tenorarie „Die Liebe zieht mit sanften Schritten sein Treugeliebtes allgemach":
Die Liebe zieht mit sanften Schritten
Sein Treugeliebtes allgemach.
Gleichwie es eine Braut entzücket,
Wenn sie den Bräutigam erblicket,
So folgt ein Herz auch Jesu nach.
In kaum einer anderen Arie hat Bach dermaßen viele Nonen-, Sept- und Quartvorhalte in ein einziges großes Cantabile verwoben. Es trägt den Tenor buchstäblich mit sanften Schritten in die Höhe. Als Bild der innigen Liebe des Gläubigen zu Jesus ist dieser sehnsüchtige Passepied im 3/8-Takt nicht zu übertreffen, was sich schon im hinreißend schönen Oboensolo zu Beginn manifestiert. Bachs Lieblingstonart h-Moll und der weiche Klang der Oboe d'amore tragen das Ihre dazu bei, die Arie in wahrhaft liebreizenden Klang zu hüllen, wobei der Dialog zwischen Bläser und Sänger auf den Bassnoten wie auf einer Himmelsleiter federleicht voranschreitet. Das dieses gesamte ausdrucksvolle Trio ursprünglich erfunden wurde, um der Liebe der fleißigen Leipziger Studenten zu ihrem Dozenten Ausdruck zu verleihen, wirkt angesichts der himmlisch schönen Töne allzu prosaisch:
Die Liebe führt mit sanften Schritten
Ein Herz, das seinen Lehrer liebt.
Lasst die süße Musica ganz freudenreich erschallen
Zum Schluss des ersten Kantatenteils hat Bach der Musik einen Lobgesang gewidmet: die siebte Strophe des Chorals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ von Philipp Nicolai. So enthält diese Kantate gleich zwei Choräle, die in Leipzigs Kirchen zur Adventszeit allenthalben gesungen wurden, gekleidet in ausdrucksvolle Bachsche Harmonien:
Zwingt die Saiten in Cythara
Und lasst die süße Musica
Ganz freudenreich erschallen,
Dass ich möge mit Jesulein,
Dem wunderschönen Bräutgam mein,
In steter Liebe wallen!
Singet, Springet,
Jubilieret, triumphieret, dankt dem Herren!
Groß ist der König der Ehren.
Willkommen, werter Schatz
Nach der Predigt setzte der Leipziger Musikdirektor den Reigen der galanten Arien mit einem Prachtstück für seinen Bassisten fort: „Willkommen, werter Schatz!“ ruft der Gläubige dem Heiland zu, was sich im vierstimmigen Streichersatz aufs Lebhafteste widerspiegelt. Für die Fassung von 1731 hat Bach etliche Änderungen in der Deklamation der Singstimme vorgenommen und vor allem im Mittelteil insgesamt 14 Takte neu eingefügt, um den Gang der Harmonie und der Melodie noch zwingender erscheinen zu lassen: „Die Lieb und Glaube machet Platz vor dich in meinem Herzen rein, zieh bei mir ein!“ Man sage nicht, Bach habe seine eigene Musik unkritisch reproduziert! Wieder folgt – wie nach dem Eingangschor – auf das strahlende D-Dur der Arie eine luthersche Choralstrophe in Moll: Die siebte Strophe von „Nun komm der Heiden Heiland“ wird vom Tenor zu virtuosen Läufen der beiden Oboen in e-Moll vorgetragen – ein kämpferisches Sinnbild für die „ewig Gottsgewalt“ des Heilands und seinen „Sieg im Fleisch“.
Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen
Wenn danach die Solovioline mit gedämpften Saiten ihr großes Vorspiel zur letzten Arie anstimmt, macht sich sofort eine fast magische Ruhe breit. „Auch mit gedämpften schwachen Stimmen wird Gottes Majestät erhöht" singt der Sopran im wiegenden 12/8-Takt, während die Violine dazu ihre silbrig glänzenden Fiorituren ausspinnt. Das Ganze ist durchaus kein Schlaflied, wie die meisten Interpretationen zu suggerieren scheinen, sondern eine lebhafte Giga, die im Mittelteil vom Hin- und Wiederschallen der Echos lebt. 1731 hat Bach diese Arie einem herausragenden Knabensopran anvertraut, dem er schon am Sonntag zuvor in der Kantate „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ zwei große Duette mit dem Bass auf den Leib geschrieben hatte. Es war vermutlich derselbe Knabe, der im September 1730 die Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ aus der Taufe gehoben hatte - möglicherweise Bachs späterer Orgelschüler Christoph Nichelmann, der im Oktober 1730 offiziell Thomasschüler wurde. Auf die Sopranarie mit ihren „himmlischen Längen“ und den reizvollen Echo-Effekten des Mittelteils folgt die letzte Strophe von „Nun komm der Heiden Heiland“ als schlichter Schlusschoral. So hat Bach die drei Arien seiner ehemaligen Studentenkantate mit drei Strophen des Lutherchorals zu einer neuen Einheit verwoben, die seitdem als Kantate BWV 36 zu den Glanzstücken seines späteren Leipziger Schaffens gezählt wird.
Zum Hören:
Bach: Adventskantate „Schwingt freudig euch empor" BWV 36, mit Nicolas Mulroy (Tenor), Peter Harvey (Bass) und Zsuzsi Tóth (Sopran), Chor und Orchester der Niederländischen Bachvereinigung unter Jos van Veldhoven (Amsterdam 2013)