Sisi in Venedig, Advent 1856
Alle kennen die Szene aus dem Sisi-Film Schicksalsjahre einer Kaiserin: die Opernaufführung in der Mailänder Scala, die durch italienische Patrioten gestört wird. Gab es sie wirklich?
Sisi in der Oper 1856-57
von Karl Böhmer
Kein Weihnachten ohne Schicksalsjahre einer Kaiserin: In ihrem dritten Sisi-Film von 1957 verkörperte Romi Schneider die schwer kranke Kaiserin, die auf Korfu wundersam geheilt wird; die junge Mutter, die mit ihrem Kind den verstockten Venezianern auf der Piazzetta ein „Viva la Mamma“ entlockt; die Kaiserin in der Mailänder Scala, wo ihr das „Va pensiero“ von Verdi entgegen geschmettert wird. Doch wie war es wirklich mit Sisi und Franz Joseph in der Oper, in Venedig und Mailand?
Das Kaiserpaar im La Fenice
Das junge Kaiserpaar hat in Lombardo-Venetien nur in einem einzigen Winter zusammen die Oper besucht, nämlich im Advent 1856 das Teatro La Fenice und im Januar 1857 die Mailänder Scala. Jener spätere Besuch, der die geheilte Kaiserin von Korfu aus nach Venedig führte, fand 1861/62 ohne Franz Joseph statt und quasi inkognito. Nach der Schlacht bei Solferino 1859 war die Stimmung auch in Venedig gegen den Kaiser gekippt. Im befreiten Mailand war gerade das vereinigte Italien ausgerufen worden. Ein Besuch in der Scala, wie ihn der berühmte Sisi-Film zeigt, wäre zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr möglich gewesen. Sisi verbrachte mehrere Monate mit ihren Kindern in der Lagunenstadt ohne weiteres Aufsehen.
Deshalb fielen die letzten Opernbesuche des Kaiserpaars in Norditalien in den Winter 1856-57. Am 25. November, fünf Tage vor dem ersten Advent, trafen Sisi und Franz Joseph in Venedig ein – ein Herrscherbesuch mit allen Ehren. Noch schienen die Verhältnisse im österreichisch regierten Lombardo-Venetien stabil. Es gärte zwar unter Italiens Patrioten, doch vorerst nur unter der Oberfläche. Am Tag der Ankunft stand um 17 Uhr ein großes Bankett auf dem Programm – keine Spur von Boykott bei den venezianischen Patriziern. Danach besuchten die Monarchen im La Fenice eine Vorstellung von Donizettis Oper Gemma di Vergy. Im Opernhaus erschallten Jubelrufe für die schöne Kaiserin, und die Venezianer stimmten in die Kaiserhymne ein. Die Gazzetta ufficiale di Venezia berichtete: „Neuer und tosender Applaus folgte auf den Gesang der Kaiserhymne. Danach gab man die Vorstellung der Oper Gemma di Vergy und das Balletts La Rosiera, an welcher in der kaiserlichen Loge auch ihre königliche Hoheit, Herzog Carl in Bayern, teilnahm. Gegen 11 Uhr erhoben sich ihre Majestäten, um sich zurückzuziehen.” Sisi, ihr siebzehnjähriger Bruder Carl Theodor und Franz Joseph konnten völlig ohne politischen Protest der Aufführung von Donizettis tragischer Oper beiwohnen. Im ersten Finale mit dem zarten d-Moll-Solo des verliebten Dieners Tamas „Un suo sguardo, un suo detto, questo braccio disarmò“ durfte die Kaiserin aufhorchen, denn die Stimme eines außergewöhnlichen Tenors füllte das Theater mit Glanz: Settimio Malvezzi.
Der Tenor, der vor Sisi sang: Settimio Malvezzi
Am folgenden Abend stand Verdi auf dem Programm, und zwar seine Giovanna de Guzman. Dabei handelte es sich um die gängigste Umdichtung seiner Sizilianischen Vesper, die aufgrund ihres revolutionären Sujets an den meisten italienischen Bühnen mit dem Originallibretto noch nicht gespielt werden durfte. Auch in Venedig wurde aus der Erhebung der Sizilianer gegen die französische Fremdherrschaft eine Episode aus dem Portugal des 17. Jahrhunderts: die Machtübernahme der Herrscherfamilie Braganza gegen den Statthalter der Spanier. Statt des Freiheitskämpfers Arrigo erschien im vierten Akt der portugiesische Höfling Enrico auf der Bühne und sang die berühmte Tenorarie:
Giorno di pianto, di fier dolore!
Mentre amore
Sorrise a me,
Il ciel dirada quel sogno aurato,
Il cor piagato
Tutto perdè.
Tag der Tränen, des herben Schmerzes!
Während mir die Liebe lacht,
Zerstört der Himmel diesen goldenen Traum.
Das verwundete Herz hat alles verloren.
Wieder war der Sänger der Partie der Römer Settimio Malvezzi. Seit der Uraufführung von Verdis Luisa Miller im Advent 1849 in Neapel galt er als einer der führenden Tenöre Italiens. Neben dem Rodolfo in Luisa Miller waren der Manrico im Trovatore und der Alfredo in der Traviata seine Paraderollen. 46 Opernabende hatte er im Winter zuvor in Madrid gesungen, in diesen Partien und in Bellini- wie Donizetti-Rollen. Dafür erntete er das höchste Lob der einheimischen wie der italienischen Presse. Das Magazin Il Pirata berichtete aus Madrid: „Um auf Malvezzi zurückzukommen, hält er sich auf einer solchen Höhe, dass es nicht übertrieben erscheint, ihm emphatische Elogen darzubringen. Seine Stimme ist immer robust und vibrierend (robusta e vibrata), und wenn es sich ergibt, weich und anrührend (soave e toccante). Seine Schule ist vollkommen, seine Darstellung wohlüberlegt. Verdientermaßen zählt er heute zu den ersten und meistgerühmten Tenören Italiens. Malvezzi ist der Schmuck und der Ruhm aller Theater, in denen er auftritt, das Idol des Publikums, das ihn liebt und schätzt. Madrid hat ihn zum Gegenstand wahrer Bewunderung erkoren. Man kann sagen, dass seine Karriere eine einzige Abfolge glänzender Erfolge ist, und wenn es nicht so wäre, würden sich die Impresarios nicht so sehr um ihn reißen.“
Während der ungewöhnlichen Herbst-Stagione im Teatro La Fenice, die eigens zum Besuch des Kaiserpaares angesetzt wurde, litt der berühmte Tenor zwar unter den Folgen einer längeren Indisposition, doch in Donizettis Finale und in Verdis großer Arie „Giorno di pianto“ konnte er die vollen Kraftreserven seiner Stimme entfalten.
La Traviata und Il Trovatore für die Kaiserin
Die dritte Oper, die Sisi und Franz Joseph in Venedig besuchten, war Verdis La Traviata – angesichts der Profession der Titelheldin ein eher pikantes Stück zur Ehre einer Kaiserin. In der Vorstellung am Mittwoch nach dem ersten Advent, dem 3. Dezember, übernahm ein neuer Tenor den Part des Alfredo: der junge Antonio Giuglini. Malvezzi war schon nach Verona abgereist, wo er für den Karneval verpflichtet war. Die schöne Stimme von Giuglini konnten Sisi und Franz Joseph nach Weihnachten noch einmal bewundern, als sie am 15. und 16. Januar 1857 in der Mailänder Scala gleich zwei Mal Verdis Trovatore hörten. Dass Kaiserin Elisabeth überaus musikalisch war und die Opern Wagners liebte, ist allgemein bekannt. Dass sich ihre Begeisterung auch auf Verdis Trovatore erstreckte, dürfte weit weniger vertraut sein. Giuglinis Serenata des Manrico „Deserto sulla terra“ krönte den Verdi-Winter des Kaiserpaares in den beiden berühmtesten Opernhäusern Norditaliens.
Zum Hören:
Donizetti, Gemma di Vergy, erstes Finale „Un suo sguardo ed un suo detto", Montserrat Caballé, Paul Plishka, Luis Lima, Opera Orchestra New York, Eve Queler
https://www.youtube.com/watch?v=yCsy1C2Oyig
Verdi, I Vespri Siciliani, Arie des Arrigo “Giorno di pianto”, Giorgio Lamberti
https://www.youtube.com/watch?v=MiQ0zWhzYM8&list=RDMiQ0zWhzYM8&index=1
Verdi, Il Trovatore, Finale des ersten Aktes mit Ettore Bastianini, Mario del Monaco, Leila Gencer