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Der Tenor Settimio Malvezzi im Jahr 1847, zwei Jahre vor der Uraufführung der Luisa Miller von Verdi (Porträt von Gennaro Ruo).

Advent in Neapel, 9.12.1849

Giuseppe Verdi in Neapel am 9.12.1849: Am Tag nach der Uraufführung der Luisa Miller sind die Meinungen geteilt, doch bald wird seine Schiller-Oper ihren Triumphzug über die Bühnen antreten.

Advent in Neapel

von Karl Böhmer

Es war kein idyllischer Advent, den Giuseppe Verdi 1849 in Neapel verbrachte. Am 8. Dezember, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis, brachte er seine neue Oper Luisa Miller auf die Bühne des Teatro San Carlo. Seine Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi war zuhause geblieben. Nur sein treuer Schwiegervater Barezzi hatte ihn begleitet, der Vater seiner verstorbenen Frau. An ihm lag es gewiss nicht, dass die Begeisterung des Maestro für Neapel einen Riss bekam, sondern an der hohen Politik. Im Jahr der gescheiterten Revolution war mit den Machthabern Italiens nicht zu spaßen. Verdi spürte förmlich den kalten Windhauch, der vom riesigen Palazzo Reale zu seinem Hotel hinüberwehte. Noch immer herrschten die Bourbonen über Neapel. Keine Revolution zwischen 1799 und 1849 hatte sie vertreiben können. „Il Re Bomba“ war der grausame Spitzname des aktuellen Herrschers Ferdinands II., weil er so gerne auf seine Untertanen schießen ließ, und zwar nicht nur mit Kanonenkugeln. Dies bekamen Verdi und sein neapolitanischer Textdichter Salvatore Cammarano auf schmerzliche Weise zu spüren.

Neapolitanische Schikanen

Erst hatten sich die Häscher des „Re Bomba“ auf den armen Librettisten gestürzt, nachdem der Komponist den Opernauftrag für Neapel gekündigt hatte. Verdi saß in Paris und wollte einfach keine neue Oper schreiben, doch Cammarano war vor Ort, ein Vater von sechs Kindern, der nun die Zeche für den fernen Freund bezahlen sollte: Man drohte ihm mit Gefängnis. In letzter Sekunde hatte Verdi ein Einsehen und ließ sich doch noch zu einer Oper für das Teatro San Carlo überreden. Zwar wurde es nicht der geplante große Wurf, Die Belagerung von Florenz, ein durch und durch republikanischer Stoff, den die Zensur in Neapel sofort verbot. Stattdessen bearbeiteten die beiden Schillers Schauspiel Kabale und Liebe, ein scheinbar unverfängliches Intrigendrama über die Liebe zwischen einem Adelsspross und einer jungen, unschuldigen Musikertochter – eine Liebe, die an einer höfischen Kabale zugrunde geht. Doch der Stoff bot genau das, was sich Verdi gewünscht hatte: „ein kurzes Drama von höchstem Interesse, mit viel Bewegung und sehr viel Leidenschaft, so dass ich es leicht vertonen kann“. Bevor das Publikum im Teatro San Carlo diese tragische Geschichte zu sehen und zu hören bekam, geriet freilich auch der Komponist ins Kreuzfeuer der Mächtigen: Bei der Anreise nach Neapel kamen ihm Gerüchte über finanzielle Engpässe des Theaters zu Ohren. Kaum in der Stadt eingetroffen, bestand Verdi auf einer Garantie seines Honorars von 3.000 Dukaten, andernfalls würde er den Vertrag lösen – ein  Ultimatum und ein Affront. Der Herzog von Ventignano, einer der vier hochadligen Deputati, die im Namen des Königs über die Geschicke des Teatro San Carlo wachten, setzte die Daumenschrauben an: Er drohte Verdi mit Hausarrest, so lange, bis die Partitur fertiggestellt war. Zwar glätteten sich die Wogen wieder, doch Verdis Liebe zu Neapel hatte einen Riss erhalten, der nie mehr heilen sollte.

Anreise mit Quarantäne

Schon die Anreise nach Neapel stand unter keinem günstigen Stern. Überall auf dem Weg nach Süden stießen sein Schwiegervater und er auf die Spuren der Kämpfe und Zerstörungen von 1848/49. In Rom sahen sie die grausamen Verwüstungen, die von den Kanonen der Franzosen in der Ewigen Stadt angerichtet worden waren. Schlimmer noch war die Depression der Römer nach der gescheiterten Revolution, am schlimmsten aber die Angst vor der Cholera: Verdi und Barezzi mussten in Rom zehn Tage in Quarantäne, bevor sie endlich nach Neapel weiterfahren durften.Endlich in Neapel eingetroffen, klärte Verdi zuerst die Fronten mit dem Impresario und den Deputati. Dann hatte er freie Hand, um die Einstudierung seiner Schilleroper vorzubereiten. In der ungewöhnlich düsteren Ouvertüre klangen die erschütternden Erlebnisse in Rom noch nach. Verdi hat sie beinahe so sinfonisch strukturiert wie einen Sinfoniesatz von Beethoven. Bei der Uraufführung am 8. Dezember wurde daneben besonders die introduktion gefeiert, ein Alpenidyll, denn vorsichtshalber hatte Camarano die Handlung aus dem 18. ins 17. Jahrhundert verlegt und in die Tiroler Alpen. Deshalb sang die junge Primadonna Gazzaniga als erste Arie eine Tirolienne, eine Arie im Tirolerstil. Neben diesem Anfang war es nur die Romanze des Rodolfo, die von den Neapolitanern gefeiert wurde, „Quando le sere al placido“. Was wir heute als Glanzstück aller großen Verdi-Tenöre kennen, wurde für einen jungen Römer geschrieben, der schon damals eine Vorliebe für laute hohe Töne mit der Bruststimme hegte.

Settimio Malvezzi, der erste Rodolfo

„Malvezzi ist ein schöner junger Mann von beweglicher und ausdrucksvoller Physiognomie. Seine Stimme ist voll, klangreich und rein im Timbre. Er singt immer mit Bruststimme und quasi immer forte […] Kompetente Beurteiler haben ihm die Weichheit von Mario und die Kraft von Duprez zugesprochen.“ Wer schon mit 28 Jahren in Paris so gefeiert wurde, dem lag die Opernwelt auch in den folgenden Jahrzehnten zu Füßen. Der Römer Settimio Malvezzi (1817-1887) machte eine erstaunliche und vor allem erstaunlich lange Karriere: „Sein Ruhm gründet sich einerseits auf die Qualität der Stimme, die selten, ja einzigartig ist in der Kunst, das Gemüt der Zuhörer zu rühren, zu erweichen und quasi zu berauschen durch unaussprechliche Süßigkeit; andererseits auf seinen einfachen, melodischen und sprechenden Gesang." Solches schrieb 1860 der Turiner Francesco Regli in seinem Lexikon der bedeutendsten zeitgenössischen Theaterschaffenden Italiens. Die Gazzetta musicale di Milano rühmte den Römer 1850 in folgenden Worten: „Der Tenor Malvezzi ist mit seltenen stimmlichen Gaben gesegnet, und man kann kaum entscheiden, was das Publikum an ihm mehr liebt: seine Stimme, die mit Klarheit, Gleichmäßigkeit, Flexibilität, Ausdehnung und Kraft ausgestattet ist, oder die vollkommen spontane und natürliche Methode, mit der er sein Organ moduliert.“ Nach der Uraufführung der Luisa Miller meldete zumindest der Kritiker des Theaterjournals Il Pirata Zweifel an Malvezzis Virtrag der berühmten Romanze an: „Der Akt schließt mit einer Scena und Aria von Malvezzi, bestehend aus einem Largo von allerschönster Faktur und mit sehr viel Gefühl sowie einer nicht neuen, aber effektvollen Cabaletta. Malvezzi schrie mit aller Kraft, und das Publikum, das heute an Schreien gewöhnt ist, applaudierte.“ (Il Pirata, Giornale di Letteratura, Teatri e Varietà, 22.12.1849).

Wie also hat dieser Sänger wirklich gesungen? Mit Bruststimme auch in der Höhe bis zum C wie der Franzose Duprez und ständig im Forte? Oder weich, rührend, fein und ausdrucksvoll wie Mario und die Tenori di Grazia seiner Generation? Offenbar beherrschte er beide Register, denn schon Verdis Notierung der Rodolfo-Partie zeigt, dass Malvezzi ein Meister der kraftvollen hohen Töne war und das Herausschmettern exaltierter Phrasen liebte. Andererseits schmolz das Publikum dahin, wenn er in seinen Romanzen und lyrischen Nummern zur Grazia seiner Kollegen überwechselte – ein klassischer Lirico spinto also, mit einem besonders schönen, weichen Piano.

Quando le sere al placido

Heutzutage hört man die schöne Cavatina „Quando le sere al placido“ meist mit Pavarotti oder Domingo, als tenorilen Kraftakt im Stil des späteren Verdi. Man muss schon auf historische Aufnahmen mit dem legendären Tito Schipa oder mit Aureliano Pertile zurückgreifen, um auch der Süßigkeit des ersten Rodolfo Settimio Malvezzi nahe zu kommen. Nach seiner Luisa Miller am Teatro Grande in Triest schrieb die Presse: „Das Adagio seiner Arie im zweiten Akt sang er mit wahrhaft italienischer Feinheit." Auf solche Art gesungen, „con finezza veramente italiana“, wird „Quando le sere al placido“ auch zu einem wunderbaren Stück für milde Dezemberabende in Napoli kurz vor Weihnachten. Denn wie meinte schon der große Verdi-Forscher Julian Budden von diesem Stück? Es sei eine Mischung aus einem Pariser Couplet und einer Canzona Napoletana zur Begleitung eines Chopin-Nocturne. Die beiden Ausführungsarten seien hier an einer neuen Aufnahme mit dem französischen Tenor Benjamin Bernheim und an einem klassischen Live-Mitschnitt mit dem oft vergessenen Verdi-Sänger Franco Bonisolli verdeutlicht.

Verdi-Sänger Malvezzi

Allein schon wegen dieser Arie war Malvezzi in der Partie des Rodolfo nachhaltiger Erfolg beschieden. Er trug Verdis Schiller-Oper auf alle großen Bühnen Italiens, nach Rom, Genua und Mailand, aber auch in die mittleren Theater: Modena, Bologna, Livorno, Triest etc. Bereits 1860 schrieb Regli: „Die Luisa Miller kann man von Settimio Malvezzi nicht trennen, der sie aus der Taufe hob.“ In den 1850er Jahren erweiterte er sein Verdi-Repertoire um die Trilogia popolare: Er wurde zum glänzenden Duca di Mantova im Rigoletto, zum gefeierten Manrico im Trovatore und zu einem würdigen Alfredo Germont in La Traviata. Malvezzis besondere Liebe galt aber weiterhin den frühen Verdi-Opern. An Giovanni Ricordi schrieb er am 29. November 1851 aus Triest:

„Am vierten Abend war meine Gesundheit vollkommen wieder hergestellt und ich bin zum Rigoletto zurückgekehrt. Diese Oper ist, wie alle zurecht geschrieben haben, eine der glücklichsten Eingebungen von Verdi, der hier seine Muse auf neue Formen eingestimmt hat, sei es in den melodischen Einfällen, sei es in der wahren Beschreibung des Dramas, mit einer überaus geistvollen und charakteristischen Instrumentierung. Freilich sei mir inmitten all dieses wahrhaft Schönen eine Bemerkung erlaubt: dass die Rolle des Duca vom Interesse und folglich von der Darstellung her die am wenigsten wichtige ist, so dass der Tenor zwar zum Erfolg beitragen kann, aber nicht dafür die Hauptverantwortung trägt wie in folgenden Verdi-Opern aus meinem Repertoire: Ernani, Foscari, Lombardi, Masnadieri, Miller. Dessen ungeachtet habe ich mich sowohl wegen des immensen Respekts, der mich an den Komponisten bindet, als auch wegen der Schönheiten der Oper, die sozusagen von einer ganz neuen Art sind, mit aller Mühe in die Arbeit gestürzt.“ (nach dem italienischen Original im Archivio Ricordi).

Seiner Vorliebe für den frühen Verdi ist Malvezzi lebenslang treu geblieben. Luisa Miller hat er bis in seine späten Jahre hinein immer wieder aufgeführt, zuletzt im Karneval 1874 am Teatro Fraschini in Pavia. Als die Kleinstadt Sant’Elpidio a Mare bei Ascoli Piceno im Juli 1873 ihr neues Theater einweihte, wurde wieder Luisa Miller ausgewählt. Befriedigt schrieb der 56-Jährige an einen Kritiker: „Am Samstag, dem 19. des laufenden Monats wurde des Teatro Cicconi mit der Oper Luisa Miller eingeweiht und hatte einen tosenden Erfolg. Ich musste die Romanze wiederholen.“ Die Romanze „Quando le sere al placido" verfehlte auch ein Vierteljahrhundert nach ihrer Uraufführung nicht ihre Wirkung, und das Ende des dritten Akts mit Luisas Gebet und dem Tod der beiden Liebenden rührte das Publikum immer noch zu Tränen. 

Zum Hören:

Verdi: Sinfonia zur Oper Luisa Miller (Neapel 1849), London Phlharmonic Orchestra, Riccardo Chailly
https://www.youtube.com/watch?v=aGBKUD0YqQE

Quando le sere al placido, Romanze des Rodolfo aus Luisa Miller, Benjamin Bernheim, Prague Philharmonia, Emmanuel Villaume
https://www.youtube.com/watch?v=vEJBkqdcSyE

Quando le sere al placido, Romanze des Rodolfo mit Franco Bonisolli, Orchester der Wiener Staatsoper
https://www.youtube.com/watch?v=wlW-BKQOHNw

Luisa Miller, Dritter Akt, Gebet der Luisa, Duett Luisa-Rodolfo, Terzettfinale
Marina Rebeka, Ivan Magrì, George Petean, Münchner Rundfunkorchester, Chor des Bayerischen Rundfunks, Ivan Repusic
https://www.youtube.com/watch?v=CdzPU42mytk