Adventskalender Neapel 22.12.1716
Weihnachtspost aus Neapel ins päpstliche Rom: Am 22.12.1716 schrieb Flaminia Scarlatti, die ältere Schwester von Domenico, einen Brief an Kardinal Albani im Vatikan.
Weihnachtspost von Familie Scarlatti
Am 22. Dezember 1716 schrieb Flaminia Scarlatti einen Weihnachtsbrief an Kardinal Annibale Albani in Rom: „Der Jubel, den das Universum bei diesem allerheiligsten Weihnachtsfest empfindet, ermuntert auch mich zu den glücklichsten und festlichsten Wünschen für Eure Eminenz und zum Ruhme Eures ganzen erlauchten Hauses, dem ich meine Fürbitten bei dem Allerhöchsten widme.“ Unter den Tausenden von Weihnachtsbriefen, die sich im Albani-Archiv in Pesaro erhalten haben, zählen diejenigen der Familie Scarlatti zu den interessantesten. Wie ihr Vater Alessandro Scarlatti, der berühmte Hofkapellmeister in Neapel, und ihr ältester Bruder Pietro, Hoforganist daselbst, war Flaminia eine feste Größe im Scarlatti-Clan. Nur ihr jüngerer Bruder Domenico hatte es geschafft, sich vom dominanten Vater abzunabeln und Kapellmeister am Petersdom in Rom zu werden – eine wahrlich imposante Position. Schon allein um den berühmten Bruder in Rom mächtige Mäzene zu sichern, war es opportun, an jedem Weihnachtsfest dem ältesten Neffen des Heiligen Vaters Glückwünsche nach Rom zu schicken, und zwar von der ganzen Familie.
Der Neffe des Papstes
Kardinal Annibale Albani hatte sich unter seinem Onkel Clemens XI. den Kardinalshut mühevoll genug verdienen müssen. Die Segnungen des barocken Nepotismus' ergossen sich im frühen 18. Jahrhundert nur noch zögerlich über die Neffen des Papstes. Immerhin aber währte das Pontifikat des Onkels schon mehr als 16 Jahre, und noch immer erfreute sich der 67-jährige Pontifex bester Gesundheit. Das machte die Position der Familie Albani in Rom unangreifbar. Glücklicherweise liebten Annibale und sein Bruder Alessandro die Musik, ganz besonders die der Scarlatti-Familie. Dies wusste auch Flaminia Scarlatti. Während also ihr Bruder Domenico in Rom damit beschäftigt war, die Weihnachtsmusik für den Petersdom einzustudieren, schrieb sie an den Kirchenfürsten einen Weihnachtsbrief, um ihn daran zu erinnern, dass auch sie zu den musikalischen Mitgliedern der Scarlatti-Familie zählte.
Flaminia Scarlatti, Sopranistin und Komponistin
Zwei Jahre vor ihrem berühmten Bruder Domenico geboren, zählte Flaminia anno 1716 schon 33 Jahre – nach den Vorstellungen der Zeit keine junge Frau mehr, doch noch immer begabt mit einer selten schönen Sopranstimme. Seit sie die Jahre 1703 bis 1708 mit ihrer gesamten Familie in Rom verbracht hatte, wusste man auch dort um ihre schöne Stimme. Beinahe wäre es zu einer Anstellung am Medici-Hof in Florenz gekommen, doch letztlich folgte Flaminia ihrem Vater nach Neapel, als er 1709 auf seinen alten Posten als Hofkapellmeister zurückkehrte. Am Fuße des Vesuvs wurde sie zur Muse von Francesco Solimena, dem Malerfürsten des neapolitanischen Spätbarock. Er liebte es, riesige Leinwände mit bewegten biblischen Historien zu füllen, während Flaminia ihm Kantaten vorsang.
Dass sie auch selbst Kantaten komponiert hat, kann man leider nur ihrer Weihnachtspost entnehmen. Im zitierten Schreiben gab sie dem Kardinal zu erkennen, dass sie „ungeduldig seine geschätzten Aufträge erwarte“. Damit waren nicht etwa Auftritte als Sängerin gemeint, sondern Kompositionen. Einem früheren Weihnachtsbrief an denselben Adressaten hatte sie nämlich eine selbst komponierte Cantata beigelegt: „Als kleines Zeichen meiner unveränderlichen Dienstbarkeit sende ich eine Cantata und küsse mit Ehrerbietung den Purpur Eures Gewandes“. Soweit man heute übersehen kann, sind Flaminias Kantaten von Flaminia verloren. Allerdings wurde ihre Stimmen in einigen der mehr als 600 Kantaten ihres Vaters verewigt, so vielleicht auch in den beiden Weihnachtskantaten.
Weihnachtskantaten vom Ritter Scarlatti
Mit der Weihnachtspost aus Neapel traf anno 1716 auch ein Schreiben von Vater Scarlatti in Rom ein. Darin benutzte er seinen einfachen Namenszug, obwohl er sich auch „Cavaliere Alessandro Scarlatti“ hätte nennen können. Am 8. Juli 1715 hatte Papst Clemens XI. den Komponisten zum Ritter des Ordens Militia Jesu Christi ernannt. Der Musikwissenschaftler Luca Della Libera konnte das entsprechende Breve des Papstes im Archivio segreto des Vatikans ausfindig machen. Seitdem weiß man, dass Scarlatti einem anderen päpstlichen Orden angehörte als Gluck und Mozart, die beide Ritter „vom goldenen Sporn“ waren. In seinem Brief an Kardinal Albani vom 19. Dezember 1716, bedauerte Scarlatti, dass ihm kein aktueller Auftrag aus Rom vorlag. Umso eifriger scheint er sich mit einer musikalischen Gabe in Erinnerung gerufen zu haben. „Da sich heute die Gelegenheit ergibt, den Jubel des Gemüts über das glückliche Schicksal der Geburt des göttlichen Erlösers zu bekunden, erlaube ich mir, dies gegenüber Eurer Eminenz auszudrücken.“ Zu diesem Brief passt jene Weihnachtskantate, die Scarlatti just im Dezember 1716 komponiert hat:
Cantata Pastorale da Camera / Soprano solo con violini / Del Cav. Alessandro Scarlatti / Xbre 1716
So lautet der Titel der autographen Partitur, die sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin befindet. Man kann sie online studieren, was sich in jeder Hinsicht lohnt. Die makellos schöne Schrift des Komponisten lässt die besondere Sorgfalt erkennen, die er auf die weihnachtlichen Bilder dieser Kantate verwendet hat. Sie war sicher für einen illustren Adressaten bestimmt, worauf schon der Titel hindeutet: „Cantata Pastorale da Camera“. Es handelt sich um eine Hirtenkantate für eine fürstliche Kammer, nicht für die Kirche. Die Krippen in den fürstlichen Palästen Roms und Neapels boten den passenden Rahmen für die Aufführung einer solchen „Cantata Pastorale“.
Weihnachtsjubel im Gemüt
Nicht zufällig schrieb Scarlatti in seinem Weihnachtsbrief vom „giubilo dell’animo“, vom Jubel des Gemüts, Dieser steht auch in der besagten Cantata „Non sò qual più m’ingombra“ im Vordergrund: von den freudig erregten Sechzehnteln der Streicher in der Einleitung bis hin zu den Hirtenklängen der Schlussarie. Der Messias ist geboren, er hat die Welt verwandelt, und er bringt ihr den Frieden. Dies ist das Stichwort für die zweite Arie: Pace, Friede:
Nacque, col gran Messia, la pace all'orbe intiera. – Mit dem großen Messias wird der Friede für den ganzen Erdkreis geboren.
Eine ganze Minute lang ergehen sich die Geigen und die Bässe zu Beginn der Arie in weihnachtlicher Hirtenmusik. So viel Raum musste sein für die unverzichtbare „Pastorale della Notte di Natale“, das Musizieren der Streicher an der Krippe, die hier Volksmusik in Kunstmusik verwandelten. Denn was draußen auf den Straßen Roms von Hirten aus den Abruzzen auf Schalmei und Dudelsack in brachialer Lautstärke dargeboten wurde, verwandelten die Geiger des barocken Rom in säuselnd süße Krippenmusik. Der Sopran stimmt in diese Bordunklänge ein, die hier zur Metapher für den Frieden werden, eingetaucht in das „Chiaroscuro“ der Streicher mit ihren überraschenden Dur-Moll-Wechseln. Als sich Kardinal Albani diese Kantate in seinem Palazzo aufführen ließ, wird er vermutlich an die schöne Sopranstimme der Flaminia Scarlatti gedacht haben.
Weihnachtskantate an der Krippe
Die berühmtere der beiden Sopran-Solokantaten, die Alessandro Scarlatti zum Weihnachtsfest komponiert hat, führt den Geburtsort Jesu im Titel: „O di Betlemme altera poverta sventurata“, „O des hohen Bethlehems glückliche Armut“. Sie stammt vermutlich schon aus der Zeit seines zweiten römischen Aufenthalts, 1703 bis 1708. Darauf deutet zumindest das Notenpapier das Originalmanuskripts hin. Auch die Musik scheint römisch inspiriert zu sein: Schon in der Streichereinleitung imitieren die Geigen und Bratschen wieder die Klänge der Hirteninstrumente Zampogna (Dudelsack) und Piffero (Schalmei) – ganz so wie in Corellis Weihnachtskonzert oder in der „Piffa“ aus Händels „Messiah“. In der ersten Arie lässt der Sopran zusammen mit den Streichern den Stern über Bethlehem in einem wunderschönen Klangbogen aufgehen:
Dal bel seno d’una stella spunta a noi l’eterno Sole. – Aus dem schönen Busen eines Sternes leuchtet die ewige Sonne auf uns.
In der zweiten Arie erblicken die Hirten das Jesuskind, „in Windeln gewickelt und einer Krippe liegend“, wie es der Engel verkündet hatte. Der rührende Anblick wird in einer zarten Melodie über absteigenden Streicherakkorden angemessen zum Ausdruck gebracht:
L’Autor d’ogni mio bene / Scioglie le mie catene. / E stretto è in fasce. – Der Autor alles Guten löst meine Ketten und ist selbst in Windeln gebunden.
Schließlich werden die Hirten – wie in Bachs Weihnachtsoratorium – aufgefordert, dem Jesuskind ihre Herzen und eine schöne Musik darzubringen. Zur Schlussarie ertönen also wieder Dudelsack und Schalmei, verwandelt in sanfte Streicherklänge:
Toccò la prima sorte a voi pastori, Ihr habt als erste erfahren dürfen, o Hirten,
Perché si fa Gesù di Dio l’Agnello. Warum sich Jesus zum Lamm Gottes macht.
Offrite alla sua cuna i vostri cuori, Bringt ihm in seiner Krippe eure Herzen dar!
Mirate quanto è vago e quanto è bello. Schaut doch, wie schön und lieblich er ist.
Der Effekt des Ganzen ist von einer schwer zu beschreibenden Süßigkeit – typisch für das traditionelle Weihnachtsfest in Neapel wie in Rom. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie Flaminia Scarlatti diese Cantata anno 1707 vor Kardinal Albani in Rom sang – oder anno 1716 in Neapel für ihre Familie an der Krippe.
Zum Hören und Schauen:
Alessandro Scarlatti: Aria pastorale „Nacque col Gran Messia“ aus der Weihnachtskantate von 1716, Emma Kirkby, London Baroque:
https://www.youtube.com/watch?v=ZMEjB_X2aQo
Alessandro Scarlatti: Weihnachtskantate „O di Betlemme altera“, Nancy Argenta, The English Concert unter Trevor Pinnock, aufgenommen in Santa Maria Maggiore in Rom:
https://www.youtube.com/watch?v=0POroU_6FkI
Domenico Scarlatti: Gloria aus der Missa brevis La Stella, The Immortal Bach Ensemble unter Morten Schuldt-Jensen.