News

Die Nikolaikirche zu Leipzig, wo Bach sein Weihnachtsoratorium mit allen sechs Teilen aufgeführt hat (Foto: Berthold Werner / Wikipedia).

Advent in Leipzig 22.12.1734

Am 22.12.1734 hat Bach nicht verzweifelt mit der Vollendung des „Jauchzet, frohlocket" gerungen. Sein Weihnachts-Oratorium war längst unter Dach und Fach – mit dem Segen der Obrigkeit.

Bach probt das Weihnachtsoratorium

von Karl Böhmer

Dass Johann Sebastian Bach am 22.12.1734, drei Tage vor der Uraufführung des „Jauchzet, frohlocket“, noch polternd über den Thomaskirchhof gestolpert sei, um sich von einem Kollegen säuerlich fragen zu lassen, wann denn sein Oratorium endlich fertig sei, ist ein Märchen, wie es nur das deutsche Fernsehen erzählen kann. Diese Märchenstunde darf nicht unkommentiert bleiben, weshalb dem Weihnachtsoratorium im heutigen Kalenderblatt einige Bemerkungen gewidmet seien. Dabei bleiben andere Irrtümer des besagten Films unberücksichtigt, etwa dass der zweitgeborene Sohn aus erster Ehe nicht „Emanuel“ gerufen wurde, sondern „Carl“, dass er kein Blondling war, sondern „der Schwarze“ genannt wurde und dass sich der zukünftige Kammercembalist Friedrichs des Großen der Wertschätzung des Vaters durchaus sicher sein konnte. Im Folgenden soll es nicht um die Bachsche „Familienaufstellung“ alla MDR gehen, sondern nur um das Weihnachtsoratorium.

Oratorium mit Vorlauf

Am Samstag, 25. Dezember 1734 gegen 8 Uhr in der Frühe, als es draußen noch finster war, hob der Leipziger Musikdirektor Johann Sebastian Bach auf der Empore der Nikolaikirche die Notenrolle, um den ersten Teil des Weihnachtsoratoriums zu dirigieren – als festen Bestandteil des vierstündigen Gottesdienstes am ersten Christtag. Wie jeder der sechs Teile war auch die „Pars I Oratorii“ als gottesdienstliche „Hauptmusik“ fest in die Liturgie eingebunden – anders wäre es in Leipzig nicht denkbar gewesen. Nach der Kantate bestieg Superintendent Salomon Deyling die Kanzel und predigte über das Tagesevangelium, die Verse 2,1-14 aus dem Lukasevangelium. Die ersten sieben davon waren unmittelbar davor mit Bachs Musik erklungen und schon dort entsprechend ausgedeutet worden. Bachs erster Oratorienteil und die Predigt waren zwei Seiten derselben Sache: Ausdeutung von Gottes Wort.

In jenem Dezember 1734 hatte sich Bach ein wahrhaft großes Werk vorgenommen, wenn auch nicht gerade „das größte Oratorium von allen“: ein zyklisches Oratorium aus sechs Teilen, verteilt auf die damals noch drei Weihnachtsfeiertage 25.-27. Dezember, auf Neujahr, den Sonntag nach Neujahr und Epiphanias. Der Jahreswechsel 1734/35 war dafür die ideale Periode, weil der Kalender zwar einen Sonntag nach Neujahr, aber keinen Sonntag nach Weihnachten vorsah. Das Oratorium hätte in anderen Jahren sieben- oder fünfteilig sein müssen, so aber konnte Bach es symmetrisch in zwei Hälften zu je drei Kantaten gliedern: drei im alten, drei im neuen Jahr.

ORATORIUM,
Welches
Die Heilige Weyhnacht
über
In beyden
Haupt=Kirchen
zu Leipzig
musiciret wurde.
Anno 1734.

So steht auf dem gedruckten Libretto zu lesen, welches in angemessener Auflage und mit einem sicheren Vorlauf von etlichen Tagen produziert werden musste, um die Gläubigen beider Hauptkirchen St. Nikolai und St. Thomas zu versorgen. Zwischen dem 25. Dezember und 6. Januar durften die Leipziger, die dieses Heft käuflich erworben hatten und zur Gemeinde der Nikolaikirche gehörten, seine 24 Seiten sechs Mal zur Hand nehmen, um den jeweils passenden Teil des Werkes aufzuschlagen. In der Thomaskirche erklangen dagegen nur vier der sechs Teile – weshalb, wird weiter unten erklärt.

Oratorium mit dem Segen der Obrigkeit

Die Texte, die man im Libretto vorfand, bestanden aus dem groß gesetzten Bericht von der Geburt Jesu nach den Evangelisten Lukas und Matthäus, aus den deutlich kleiner gedruckten Choralstrophen wohlvertrauter Weihnachtslieder, die aber nicht zum Mitsingen bestimmt waren, und aus den mittelgroß gesetzten, betrachtenden Teilen, die von Bach als freie Rezitative, Arien, Duett und Terzett sowie diverse Chöre vertont wurden. Deren Texte hatte er selbstverständlich mit dem Konsistorium, der geistlichen Obrigkeit Leipzigs, abzustimmen, bevor sie gedruckt werden durften. Es bestand also, was das Weihnachtsoratorium betraf, bestes Einvernehmen zwischen dem Herrn Musikdirektor und seinen geistlichen Vorgesetzten. Auch der Rat der Stadt Leipzig hatte anno 1734 allen Grund, auf Bach stolz zu sein, hatte er es doch geschafft, zum extrem kurzfristig angesagten Besuch des neuen Kurfürsten Friedrich August II. und seiner habsburgischen Gemahlin samt Kinderschar zur Leipziger Herbstmesse innerhalb von vier Tagen eine Festmusik (BWV 215) zu komponieren, einzustudieren und beim feierlichen Fackelzug auf dem Leipziger Marktplatz in prachtvollster Weise aufzuführen – eine perfekte Präsentation der Messestadt vor ihrem Landesherren. Warum also hätte man Bach das Projekt des Weihnachtsoratoriums verbieten sollen, zumal es sich ebenso organisch in die Gottesdienste einfügte wie seine vier vollständigen Zyklen von Weihnachtskantaten zuvor? Auch der Rat wusste, was er seinen Leipzigern und vor allem den Leipzigerinnen an Weihnachten schuldig war.

Perfekt geplantes Oratorium

Die Hektik einer weltlichen Gelegenheitsmusik, wie sie Bach im Oktober 1734 am eigenen Leibe erfahren hatte, blieb ihm bei der Vorbereitung des Weihnachtsoratoriums erspart. Von langer Hand hatte er dieses Werk geplant, um die Arien und Chöre aus zwei großen weltlichen Festmusiken zu Ehren des sächsischen Kurprinzen und seiner Mutter (BWV 213, 214) vor dem Vergessen zu bewahren und in Festmusiken zur Geburt des Jesuskindes umzuwandeln. Dazu mussten die Texte völlig neu gefasst werden: Aus „Tönet, ihr Pauken, erschallet Trompeten“ wurde „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage“, aus „Kron und Preis gekrönter Damen“ wurde „Großer Herr, o starker König“, aus einem Schlaflied, das die trügerische Wollust dem jungen Helden Herkules singt, um ihn mit verführerischen Soprantönen vom Pfad der Tugend abzubringen, wurde das Wiegenlied eines Alt singenden Hirten an der Krippe: „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh“. Deshalb hat Bach dem Streichorchester der ursprünglichen Arie im Oratorium das gesamte Arsenal der Hirtenmusik hinzufügt: vier Oboen als Hirten-Schalmeien und eine Traversflöte als Hirtenflöte. Dass dieselben Instrumente und Musiker schon in der Hirtensinfonie zum zweiten Teil des Oratoriums zum Einsatz kamen, zeugt von Bachs Plan, jedem der sechs Teile einen eigenen Charakter und ein eigenes Thema zu geben, wie in diesem Fall, die Kantate zum zweiten Feiertag als „Hirtenkantate“ zu gestalten.

Eine dermaßen gewissenhafte Planung lässt sich nicht im Handumdrehen bewältigen, wie auch das Schriftbild von Bachs Original-Partitur verrät. Die jeweils sechs Bögen Notenpapier, die er für jeden Teil des Oratoriums fein säuberlich beschrieben hat, wurden sicher nicht an der Wäscheleine zum Trocknen aufgehängt (schon gar nicht als Einzelseiten!). Selbst die Originalstimmen vermitteln etwas von der ruhigen, konzentrierten Vorbereitungszeit: Bach hat seine Familie beim Ausschreiben der Stimmen für dieses Werk gerade nicht in Anspruch genommen, sondern seine beiden damaligen Hauptkopisten Rudolf Straube und Johann Gottlob Haupt, die sich beim Schreiben der sechs Teile ablösten. Drei weitere Kopisten waren beteiligt, damit alle Stimmen von Bach gewissenhaft durchgesehen werden konnten, bevor die Proben begannen. Dieses Oratorium war generalstabsmäßig durchgeplant.

Hektische Weihnachtstage

Dass Bach der Herstellung des Notenmaterials im Vorfeld so viel Aufmerksamkeit widmete, hatte rein praktische Gründe: Sobald im Advent die Proben begonnen hatten, war keine Zeit mehr für große Revisionen. Die Sänger von Bachs Kirchenmusik waren keine gefeierten Opernstars, sondern Knabensoprane und ein junger Altus von der Universität. Sie brauchten Extrastunden zum Einstudieren der schweren Arien. Wenigstens auf den Evangelisten und den Bassisten war Verlass, sonst wäre der Aufführungskalender an Weihnachten kaum zu bewältigen gewesen.

Am Fest selbst herrschte in Leipzig ein gnadenloser Aufführungsrhythmus: Kaum hatte Bach den ersten Teil des Weihnachtsoratoriums „frühe zu St. Nicolai“ dirigiert, musste er schon mit seinen Musikern nach St. Thomae umziehen, wo das „Jauchzet, frohlocket!“ zur Vesper noch einmal erklang. Danach mussten sich Bach und seine Sänger für den nächsten Tag schonen. Denn „am 2. Heil. Weihnachts-Feyertage“ erklang die Hirtenkantate „frühe zu St. Thomae, nachmittage zu St. Nicolai“. Wenigstens am dritten Feiertag beschränkte man sich auf eine einzige Aufführung der Kantate „zu St. Nicolai“. Im neuen Jahr wiederholte sich das Spiel der Doppelaufführungen am 1. und 6. Januar: „frühe zu St. Thomae; nachmittage zu St. Nicolai“. Einzig die Nikolai-Gemeinde kam in den Genuss, am 2. Januar den fünften Teil zu hören mit seinem beschwingten Eingangschor „Ehre sei dir Gott gesungen“. Soweit wir wissen, hat Bach das Weihnachtsoratorium vollständig also nur in der Nikolaikirche dirigiert. Die Gemeinde der Thomaskirche musste sich mit den Teilen I, II, IV und VI begnügen.

Oratorium im Dresdner Geschmack

Die Leipziger Gemeinden, denen Bachs ältere Kirchenmusik im beginnenden galanten Zeitalter der 1730er Jahre oft viel zu barock und verkünstelt vorkam, hatten im Weihnachtsoratorium ausnahmsweise keinen Grund, sich zu beschweren. Ihr Musikdirektor hatte sich hier einmal ganz dem Dresdner Geschmack des Opernmeisters Hasse angepasst und im galanten Stil eine schöne Arie auf die nächste folgen lassen. Sogar ein Duett und ein Terzett finden sich in der Abfolge der betrachtenden Teile. Prachtvolle D-Dur-Chöre mit Pauken und Trompeten oder ein jubilierender A-Dur-Gesang über den Trommelbässen des neuen Zeitalters sorgen für den allfälligen Festglanz. Dazwischen hat Bach dem demütigen Nacherleben des Weihnachtsgeheimnisses den gebührenden Platz eingeräumt: in den Choralstrophen aus den schönsten lutherischen Weihnachtsliedern und vor allem im Bericht des Evangelisten mit seinen vielen Details aus der Weihnachtsgeschichte nach Lukas und Matthäus. Auch die Hirten hat Bach nicht vergessen: Mit ihren Schalmeien, Flöten und Dudelsäcken bevölkern sie den zweiten Teil des Oratoriums, weil sie es waren, die von Gott dazu auserwählt wurden, als Erste von der Geburt des Erlösers zu erfahren. In der 30.000-Einwohner-Stadt Leipzig begannen die Weidewiesen der Schafherden damals gleich jenseits des Lindengürtels, der die Stadtmauer umschloss. Bach konnte die Schafe von seinem Komponierstübchen aus sehen. Dass er ihren Hirten im Oratorium akustisch so breiten Raum eingeräumt hat, war auch ein Bekenntnis des Kleinstädters aus Eisenach zur ländlichen Welt – gegen die mondäne Stadtkultur des vornehmen Leipzig.

Was es sonst noch zu BWV 248 zu sagen gibt, haben Bachforscher in extenso beschrieben. Es sei die Lektüre von Walter Blankenburg und Alfred Dürr, Hans-Joachim Schulze und Martin Petzoldt, Christoph Wolff und Martin Geck empfohlen. Unbedingt sollte man aber auch einen Blick auf die Originalpartitur und das originale Aufführungsmaterial auf der Website „Bach digital“ werfen. Dort sind auch alle Schreiber des Notenmaterials genau aufgelistet:

Originalstimmen zum ersten Teil des Oratoriums:
https://www.bach-digital.de/receive/BachDigitalSource_source_00002451

Bachs Partiturautograph aller sechs Teile:
https://www.bach-digital.de/receive/BachDigitalSource_source_00000850

Zum Hören und Schauen:

Weihnachtsoratorium BWV 248, Teil II, Netherlands Bach Society, Shunske Sato (Violine und Leitung), Solisten: Viola Blache, Ulrike Malotta, Daniel Johannsen, Matthias Hell
https://www.youtube.com/watch?v=0SJxUZj0PDU

Weihnachtsoratorium BWV 248, Teile I-III, Monteverdi Choir, English Barqoue Soloists, John Eliot Gardiner (Herderkirche Weimar)
https://www.youtube.com/watch?v=zpaNo4mWRBE&vl=de