Der junge Brahms, fotografiert von König in Hamburg.

Adventskalender Wien 23.12.1864

Das dritte Wiener Weihnachtsfest des Johannes Brahms: Gemütlichkeit in der Singerstraße im Schatten des Stephansdoms – Streichsextett, Volkslieder und Walzer.

Brahms’ dritte Wiener Weihnacht 1864

Schnell noch letzte Besorgungen machen und die Weihnachtsbriefe auf die Post tragen: Der 31-jährige Junggeselle Johannes Brahms stand am 23.12.1864 vor seinem dritten Wiener Weihnachtsfest. Es sollte eines seiner gemütlichsten werden. Schon im Oktober hatte er Clara Schumann gemeldet: „Ich wohne höchst gemütlich. Du wirst Dich ganz behaglich fühlen, wenn ich Dir einmal bei mir Kaffee mache oder Dich und Marie mit Österreicher Wein traktiere. 3 ganz kleine Zimmer habe ich. Singerstr. Nr. 7, 7. Stiege, 4. Stock.“ Wer heute durch die mondäne Singerstraße streift – zwischen Buchhandlungen, Juweliergeschäften und einer Privatbank –, trifft unter Hausnummer 7 auf die Deutschordenskirche und das zugehörige Barockpalais. Gleich dahinter erhebt sich der gewaltige Bau des Stephansdoms. Mozarts Wohnung im Carmesinaschen Hause, heute Mozart House Vienna genannt, ist nur zwei Schritte entfernt. Seinen dritten Wiener Winter verbrachte Brahms im Herzen der Inneren Stadt und hatte für die letzten Weihnachtseinkäufe keine weiten Wege. Es war nicht sein erstes Weihnachtsfest in Wien, aber das bislang gemütlichste, denn er war nicht mehr überhäuft mit Konzertverpflichtungen wie im ersten Wiener Winter 1862/63 oder mit der Leitung der Singakademie, die er in der Saison 1863/64 übernommen hatte. Nur ein einziges Konzert dirigierte er bei seinem früheren Chor. Clara berichtete er davon in aufgeräumten Worten: „Montag musste ich schon die Akademie leiten, da Dessoff verhindert war. Ich soll ganz prächtig lustig gewesen sein, natürlich weil mir die Konzerte nicht mehr im Nacken sitzen und weil das Magnificat von Bach herrlich in Feuer bringt.“

Weihnachten mit Streichsextett

Ganz so rosig, wie diese Zeilen vermuten lassen, nahm sich die Situation des Neuwieners Brahms damals freilich nicht aus. Es fehlte ihm an Einnahmen, sowohl aus Konzertauftritten als auch aus Publikationen. An Weihnachten 1864 lagen zwei große Kammermusikwerke noch unvollendet auf seinem Schreibtisch: das Klavierquintett in f-Moll und das zweite Streichsextett in G-Dur. Immerhin konnte er Clara die ersten drei Sätze des G-Dur-Sextetts als Weihnachtsgeschenk zusenden. Unter dem Christbaum dürfte sie das idyllische Scherzo und das wehmütige Variationenthema des Adagios mit Begeisterung durchgeblättert haben. Zur Publikation fehlte aber noch das Finale. In Wien kam Brahms vorerst nicht zum Komponieren: „Aus Baden vertrieb der Winter und jetzt beim schönsten Sommerwetter muss man sich hier abhetzen lassen", klagte er schon im November.

Volkslieder

Immerhin erhielt er Besuch von seinem Schweizer Verleger Rieter, der im Dezember 1864 eine Sammlung von 14 Brahmsschen Volkslied-Bearbeitungen für gemischten Chor und Klavier veröffentlichte. Als Chorleiter der Wiener Singakademie hatte Brahms mit diesen rührenden Volksliedsätzen im Winter 1863/64 gleich in mehreren Konzerten aufhorchen lassen. Nun wählte er die 14 schönsten Chöre zur Publikation aus und sandte sie im September nach Winterthur. Im sechsten Chorsatz der Reihe richten die Sänger ihre Bitten an das Jesuskind:

Ach lieber Herre Jesu Christ,
Weil du ein Kind gewesen bist,
So gib auch diesem Kindelein
Dein Gnad und auch den Segen dein!
Ach Jesus, Herre mein,
Behüt dies Kindelein!

Dein'r Engel Schar, die wohn ihm bei,
Es schlaf, es wach und wo es sei.
Das heilig Kreuz behüt es schon,
Dass es besitz der Heilgen Kron.
Ach Jesus, Herre mein,
Behüt dies Kindelein!

Nun schlaf, nun schlaf, mein Kindelein!
Jesus, der soll dein Wächter sein.
Er woll, daß dir geträume wohl
Und werdest aller Tugend voll!
Jesus, der Herre mein,
Behüt dies Kindelein!

Ein gute Nacht und guten Tag
Geb dir, der alle Ding vermag!
Hiermit sollst du gesegnet sein,
Mein herzeliebes Kindelein.
Jesus, der Herre mein,
behüt dies Kindelein!

Brahms schreibt Walzer

In der Weihnachtszeit erklommen zahlreiche liebe Freunde jene Stiege bis zum vierten Stock in der Singerstraße, manche um zu plaudern, andere um Musik zu machen oder Geschäfte abzuschließen wie der Verleger Rieter, bei dem Brahms nicht nur die 14 Volkslieder veröffentlichte, sondern auch eine Serie von vierhändigen Klavierwalzern, die er an jenem gemütlichen Weihnachtsfest des Jahres 1864 begonnen hatte. Rasch war Brahms als genialer Walzerspieler in Wien bekannt geworden. Ausgerechnet er, der kühle Hanseate aus Hamburg, war stolz darauf, jede Wiener Gesellschaft, die schon im Aufbruch begriffen war, wieder zur „Party“ zurückzuholen, indem er begann, Walzer zu spielen. Genau aus dieser guten Laune heraus, aber auch als Tribut an den typischen Wiener Walzerwinter zwischen Weihnachten, Neujahrskonzert und Faschingsbällen hat er jene Walzer geschrieben und sie seinem Freund Eduard Hanslick gewidmet. Der führende Musikkritiker Wiens revanchierte sich mit einer jubelnden Kritik, die so recht das Erstaunen der Zeitgenossen über den Walzerkomponisten Brahms beschreibt:

Der ernste, schweigsame Brahms, der echte Jünger Schumanns, norddeutsch, protestantisch und unweltlich wie dieser, schreibt Walzer? Ein Wort löst uns das Rätsel, es heißt: Wien. Die Kaiserstadt hat Beethoven zwar nicht zum Tanzen, aber doch zum Tänzeschreiben gebracht, Schumann zu einem ‘Faschingsschwank’ verleitet, sie hätte vielleicht Bach selber in eine ländlerische Todsünde verstrickt. Auch die Walzer von Brahms sind eine Frucht seines Wiener Aufenthalts, und wahrlich von süßester Art. Nicht umsonst hat dieser feine Organismus sich Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft Österreichs ausgesetzt – seine Walzer wissen nachträglich davon zu erzählen.

Zum Hören:

Streichsextett Nr. 2 G-Dur, op. 36, aufgezeichnet am 27.12.2022 beim Utrecht Chamber Music Festival: Boris Brovtsyn, Clara-Jumi Kang, Violinen | Amihai Grosz und Timothy Ridout, Viola | Pablo Ferrández und Zvi Plesser, Violoncello

https://www.youtube.com/watch?v=gXOHCMY6Gx4

Ach lieber Herre Jesu Christ, Volksliedbearbeitung WoO 34 Nr. 6, gedruckt im Dezember 1864: Konzertchor Darmstadt, Leitung: Wolfgang Seeliger

https://www.youtube.com/watch?v=k4_u0QFlXI8

Walzer As-Dur, op. 39 Nr. 15 mit dem Dirigenten Yannick Nézet-Seguin am Primo und der Pianistin Beatrice Rana am Secondo

https://www.ardmediathek.de/video/ard-klassik/brahms-walzer-as-dur-beatrice-rana-yannick-nezet-seguin-br-klassik/ard/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE2Njc3NDQ