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Die Lichtentaler Pfarrkirche im Wiener Alsergrund, wo Schubert im September 1814 seine F-Dur-Messe dirigierte.

Advent in Wien 3.12.1814

Was der junge Hilfslehrer Franz Schubert im Advent 1814 in der Wiener Vorstadt Himmelpfortgrund komponierte, erzählt unsere Adventsgeschichte zum 3. Dezember.

Advent mit Goethe

von Karl Böhmer

Es musste Goethe sein, immer wieder Goethe. Der Dichterfürst aus Weimar warf seinen langen Schatten in den Wiener Himmelpfortgrund, wo er einen jungen Komponisten fest im Griff hielt: Franz Schubert. Was die Schüler in der Wiener Vorstadt ihrem jungen Hilfslehrer an Freizeit übrig ließen, verwendete er im Spätjahr 1814 fast ausschließlich auf Goethe. Dabei gönnte sich der Siebzehnjährige am 3. Dezember, dem Samstag vor dem zweiten Advent, eine Pause vom Faust. Atemlos hatte ihn seine Begeisterung vorangetrieben, seit er Mitte Oktober Gretchen am Spinnrade vertont hatte, sein erstes Goethelied – ein Meilenstein der Romantik: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie, finde sie nimmermehr.“ Zu Gretchens verzweifeltem Monolog dreht sich unablässig, unerbittlich das Spinnrad in der Begleitung des Klaviers. Der junge Schubert hatte dem Lied eine völlig neue Dimension romantischen Ausdrucks erschlossen, und der Schlüssel dazu war Goethes Faust. In den ersten Tagen des Advents ließ er darauf noch weitere gewichtige Goethe-Lieder folgen, am 3. Dezember aber trieb es den Siebzehnjährigen hinaus in die freie Natur und zu leichteren Tönen. Goethes Gedicht Sehnsucht lag auf seinem Schreibtisch, und er vertonte es wie eine heitere Opernszene: im Rezitativ, gefolgt von Arioso und Arie.

Sehnsuchtslied

Was zieht mir das Herz so? Was zieht mich hinaus? | Und windet und schraubt mich aus Zimmer und Haus?

Wie oft wird es Schubert in jenen Herbsttagen „hinausgeschraubt“ haben ins Wiener Umland mit seinen schönen Hügeln und Wäldern, weit weg vom Lärm der Schüler im Klassenzimmer und von der Enge des Elternhauses? In Goethes Gedicht verwandelt sich der junge Held, kaum in der Natur angekommen, in einen Vogel, der sich in die Lüfte schwingt und seine Liebste von oben erspäht. „Sie weilet da drunten; ich spähe nach ihr.“ Als Singvogel lockt er sie an, wobei sich Schubert den Gesang des Vögelchens im Klavier nicht entgehen ließ:

Sie weiset und horchet und lächelt mit sich: | „Er singet so lieblich und singt es an mich!“

So denkt die Schöne und zieht weiter die Wiesen entlang, bis es Nacht wird. Nun erscheint ihr der Liebste in Gestalt eines Sterns:

Auf einmal erschein ich ein blinkender Stern! | „Was glänzet da droben so nah und so fern?“ | Und hast du mit Staunen das Leuchten erblickt; | Ich lieg dir zu Füßen, da bin ich beglückt!

Goethes Metamorphose eines Liebenden, der sich in wechselnden Gestalten seiner Angebeteten nähert, war ganz nach Schuberts Sinn. Er hat sie so raffiniert in Töne gekleidet – im steten Wechsel zwischen Rezitativen, weich schwingendem Arioso und emphatischen Aufschwüngen–, dass man dahinter mehr vermuten möchte als nur kongeniale Umsetzung des Dichterworts: Schubert war verliebt.

Erste Messe mit Sopransolo

Seine Auserwählte war die junge Sängerin Therese Grob im Kirchenchor zu Lichtental, Tochter eines Schweizer Seidenwarenverkäufers. Die Romanze währte mindestens bis November 1816, als Schubert ihr ein eigenes Liederheft widmete. Doch eine Zukunft konnte er ihr nicht bieten: Nach dem rigiden „Ehe-Consens-Gesetz“ der Monarchie musste ein Familienvater seiner zukünftigen Frau ein sicheres Auskommen garantieren, und das war für einen „Schulgehülfen“ in Wien nicht möglich. Zudem war Schubert alles andere als ein begnadeter Pädagoge: Im Abschlusszeugnis des Präparandenkurses für die Lehrerausbildung vom August 1814 wurde seine Eignung zur „Unterweisung“ als mittelmäßig eingestuft, seine Kenntnis der Religion gar als schlecht. Dies hinderte ihn nicht daran, einen Monat später in der Lichtentaler Pfarrkirche seine erste Messe für Chor und Orchester zu dirigieren: die gewaltige F-Dur-Messe. Ihr Sopransolo wurde von Therese Grob gesungen. In Tönen konnte er freier von Gott reden als im Religionsunterricht zu seinen Schülern.

Zweite Sinfonie

Noch eine zweite große Musikgattung nahm bei Schubert im Herbst 1814 neue Dimensionen an: die Sinfonie. Am 10. Dezember begann er mit seiner Zweiten Sinfonie in B-Dur – ein breit angelegtes Werk im heroischen Stil Beethovens mit einer gewichtigen langsamen Einleitung, einem lieblichen Andante, einem grimmigen g-Moll-Scherzo und kraftvoll drängenden Allegro-Sätzen voller motivischer Metamorphosen im schönsten Orchesterklang. Die pathetischen Passagen dieses Werkes hatten ihre Wurzeln letztlich wieder bei Goethe, denn in seinem Umfeld skizzierte er seine bislang größte Szene aus dem Faust.

Szene im Dom

Am 12. Dezember legte Schubert die gerade begonnene Sinfonie beiseite und wandte sich wieder Gretchen zu, nun in der allerhöchsten Not, unter dem Orgelklang des Doms. Anfang Dezember hatte er die Szene im Dom in einer ersten Fassung skizziert. Nun genügte ihm ein einziger Tag, um das Werk ins Reine zu schreiben: Aus Göthe’s Faust. Dom. Amt. Orgel und Gesang. Gretchen unter vielem Volke. Böser Geist. So die ausführliche Überschrift. Sie lässt erkennen, dass Schubert hier in den Dimensionen einer Opernszene mit Chor und Orchester dachte. Dies verraten auch seine Eintragungen in der ersten Fassung: „Chor“, „Orgelton“ und „Tromboni“ für imaginäre Posaunen. Vor allem verrät es die Musik, die schon im Rezitativ des bösen Geistes zu Beginn in chromatische Dimensionen vordringt, wie sie nur ein Orchester in ihrer düsteren Schwärze ausmalen könnte. Gretchens Verzweiflung hat der junge Schubert in Töne gefasst, die weit ins 19. Jahrhundert ausgreifen. Was wäre wohl geschehen, wenn er damals eine Faust-Oper komponiert hätte? Doch wer hätte sie ihm abgenommen, dem armen Hilfslehrer aus der Vorstadt, der sein Studium am K. K. Stadtkonvikt auf Drängen des Vaters hatte abbrechen müssen? Außerdem wusste er, dass Louis Spohr erst im Vorjahr einen Faust komponiert hatte, und noch zogen sich die Verhandlungen zwischen dem Maestro aus Deutschland und dem Theater an der Wien hin. Wer hätte da Sinn für eine Schubertsche Faust-Oper gehabt? Sie blieb der unerfüllte Traum eines Siebzehnjährigen. Also blieb auch die Szene im Dom ein „Lied“ für ein oder zwei Sänger mit Klavierbegleitung. 1952 haben Elisabeth Grümmer und Dietrich Fischer-Dieskau das Werk mit einem Chor eingespielt, der das Dies irae anstimmt – so als sei es der Klavierauszug einer Opernszene – ein wahrhaft erschütterndes Experiment.

Zum Hören:

Schubert: Sehnsucht (Goethe), D 123 (komponiert am 3.12.1814)

Christoph Pregardien, Andreas Staier

    https://www.youtube.com/watch?v=pncFPzmOlAY

 

Schubert: Kyrie aus der Messe Nr. 1 F-Dur, D 105, mit dem Sopransolo für Therese Grob (September 1814)

Zdena Kloubova (Sopran), Prager Kammerchor, Virtuosi di Praga

    https://www.youtube.com/watch?v=P3PrdFzSQBA

 

Schubert: Zweite Sinfonie B-Dur, D 125 (begonnen am 10.12.1814)

hr-Sinfonieorchester, Andrés Orozco-Estrada (mit dem Villa Musica-Stipendiaten Theo Plath am ersten Fagott)

   https://www.youtube.com/watch?v=-26Gt4rGaQA

 

Schubert: Szene im Dom aus Goethes Faust, D 126 (vollendet am 12.12.1814)

Elisabeth Grümmer (Gretchen), Dietrich Fischer-Dieskau (Böser Geist), Chor, Herta Klust (Klavier)

  https://www.youtube.com/watch?v=E-3Yl_n2P6g