Advent in Potsdam 4.12.1755
Die große Hedwigskathedrale von Berlin ist gerade wieder eröffnet worden – ein Traum in Weiß, wie er schon Friedrich dem Großen vorschwebte. Der König selbst feierte den Advent ohne Gebete und Kerzenschein.
Ein Bachsohn im Potsdamer Schlosstheater
von Karl Böhmer
So hatte sich Carl Philipp Emanuel Bach seinen Advent nicht vorgestellt: Am 4.12.1755, dem Donnerstag nach dem ersten Advent, saß er immer noch im Schlosstheater zu Potsdam und begleitete italienische Buffa-Sänger in komischen Intermezzi. Noch bis 12. Dezember mussten die Musiker der Hofkapelle ohne ihre Familien in Potsdam ausharren, weil der König in diesem Advent besonders spät nach Berlin umzog. Carl Philipp würde seinen Kindern nicht einmal zu Nikolaus bescheren können. Wie ruhig war doch der Dezember zuhause in Leipzig gewesen, wenn die väterliche Kirchenmusik nach dem ersten Advent ruhte. Zwar bereiteten die Proben zu den Weihnachtskantaten etliche Scherereien, doch nahm man alles gerne in Kauf, wenn am ersten Christtag in Leipzigs Hauptkirchen die prachtvollen Chöre und die frommen Arien des seligen Herrn Vaters erschallten: „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage!“ Von derlei frommen Gesängen zu Ehren des Höchsten konnte in Potsdam keine Rede sein, auch wenn der König gerade mit Papst Benedikt XIV. und Kardinal Querini über die Errichtung einer großen katholischen Kirche in Berlin verhandelte. In Potsdam strotzte alles vor Soldaten, und im Stadtschloss war alles weltliche Geschäftigkeit zwischen Hofkonzerten, Empfängen und Opera buffa!
Opera buffa zwischen goldenen Palmen
Immerhin: Die Italiener verstanden es, den König zum Lachen zu bringen. Der Bassist Domenico Cricca aus Bologna vollbrachte wahre Wunder in der Rolle des komischen Alten Balanzone, der von seiner Dienerin Dorilla nach Strich und Faden übers Ohr gehauen wird. Auch Signora Paganini war schön anzuschauen, hatte eine passable Stimme und wendige Mimik. Solange die Musik von Hasse stammte, konnte man selbst dagegen nichts einwenden. La serva scaltra war ein Meisterstück, und dass es den König schon seit drei Jahren zum Lachen brachte, lag an den schönen Melodien des Dresdner Hofkapellmeisters und an seinen komischen Einfällen. Auch der Rahmen der Aufführung konnte sich sehen lassen: das kleine Theater im Stadtschloss zu Potsdam. 14 vergoldete Palmbäume standen zwischen den Logen. Die halbrunden Sitzbänke davor, die erstaunlich geräumige Bühne mit ihren fünf Kulissengassen und die Bühnenbilder von Bellavilla verpflanzten den Glanz italienischer Opernhäuser nach Potsdam.
Opera seria unter den Linden
All dies bereitete dem Bachsohn keine Sorgen, es waren vielmehr der gnadenlose Zeitplan des Königs und die große Politik. Am 13. Dezember musste in Windeseile nach Berlin zurückverlegt werden, weil die zweite Karnevalsoper zu proben war, I fratelli nemici von Graun. Gegen diese große Oper war ein kleines Intermezzo von Hasse die reinste Bagatelle. Seinem derzeitigen Lieblingskastraten Stefanino Leonardi hatte König Friedrich die Rolle des Bösewichts auf den Leib geschrieben: „Stefanino vollbringt wahre Wunder. In den Fratelli nemici hat er eine schöne Rolle, und er wird sie mit Bravour meistern", verriet der König seiner Schwester Wilhelmine in Bayreuth. In der Woche vor Weihnachten fanden die Endproben zur Oper Ezio statt, die am 22. Dezember den Berliner Karneval eröffnen sollte. Bei so viel Opera buffa und Opera seria kam dem lutherischen Bachsohn die Andacht eindeutig zu kurz. Doch König Friedrich kannte keine christliche Besinnlichkeit, schon gar nicht im Advent 1755.
Flötensonaten im Konzertzimmer
Die Mitglieder der Hofkapelle ahnten es schon: Es stand etwas Großes im Raum, eine fundamentale Veränderung der Politik. Englische Diplomaten und preußische Generäle gaben sich im Schloss die Klinke in die Hand. Wollte der König wirklich mit England paktieren, gegen die Kaiserin und den König von Frankreich? Dann würde es wieder Krieg geben, nach nur elf Jahren des Friedens! König Friedrich ließ sich freilich nichts anmerken: Zwischen den Intermezzo-Aufführungen blies er seelenruhig seine Flöte. Im Konzertzimmer des Potsdamer Stadtschlosses glänzten die Chinoiserien im Kerzenlicht, während die rote Livree der Musiker zum Grün der kostbaren Wandvertäfelung einen reizenden Kontrast bildete. Flötenkonzerte von Quantz und ihrer Majestät, aber auch die neuesten Opernarien, die Graf Algarotti aus Venedig geschickt hatte, standen auf dem Programm. Carl Philipp begleitete alles in Seelenruhe und sehnte sich nach den Adventskantaten seines Vaters, die ihm dann doch als die kernigere Musik erschienen. Bei König Friedrich hatte alles „galant“ zu sein, nach dem neuesten italienischen Geschmack. Dabei hätte er die Italiener nie und nimmer in sein Hoforchester einziehen lassen. Dort war alles deutsch und böhmisch. Sein Konzertmeister Benda und Graun, die Cembalisten Bach und Schaffrath konnten jeden Italiener ihrer Profession in den Schatten stellen, das wusste der König nur zu gut. Dennoch ließ er sie miserabel bezahlen im Vergleich zu den Stars der Oper und den Ballerinas aus Italien.
Der letzte Advent vor dem großen Krieg
All dies mag dem berühmten Bachsohn durch den Kopf gegangen sein, während er Domenico Cricca in einer Buffa-Arie begleitete oder den König im Flötenkonzert. Was er schon geahnt haben mag, wurde 1756 tatsächlich grausame Wirklichkeit: Mit dem Einmarsch der Preußen in Sachsen brach König Friedrich einen neuen Krieg vom Zaun, der sieben blutige Jahre dauern sollte. Den Berlinern bescherte er den Überfall russischer Truppen, den Staat Preußen brachte er an den Rand des Ruins. Doch im Advent 1755 war davon noch nichts zu spüren. Die heile Welt des „friderizianischen Rokoko“ feierte ein letztes Mal die Leichtigkeit des Seins zur Musik von Hasse, Friedrich dem Großen und Carl Philipp Emanuel Bach.
Zum Hören:
Hasse: La serva scaltra (Potsdam 1752-56), Querschnitt mit Mayan Goldenfeld und Anthony Rivera, Leitung: Sigiswald Kuijken
https://www.youtube.com/watch?v=k8BoDQ2Vb4g&list=PLd9K0lb2RZMkLj5IhWiXPw8LNoVy3BGfJ
Friedrich II.: Flötenkonzert C-Dur, Emmanuel Pahud, Kammerakademie Potsdam, Trevor Pinnock (aufgezeichnet im Schlosstheater des Neuen Palais, das nach dem Vorbild des zerstörten Theaters im Stadtschloss erbaut wurde):
https://www.youtube.com/watch?v=4_dDTTnuq9c
Carl Philipp Emanuel Bach: Flötenkonzert G-Dur, Allegro di molto, Jacques Zoon, Berliner Barocksolisten, Reinhard Goebel
https://www.youtube.com/watch?v=uo-z58pHJ2c
Carl Philipp Emanuel Bach: Solo a-Moll, Wq 132, Gergely Ittzés (Evangelische Kirche in Buda, Mai 2020)
https://www.youtube.com/watch?v=t_kkmIo3xzk