Advent in London 5.12.1712
Als Händel seine zweite Londoner Oper Il Pastor fido aus der Taufe hob, zählte man auf dem Kontinent schon den 5. Dezember. In London zeigte der Kalender gerade erst den 22. November.
Händel zwischen den Kalendern
von Karl Böhmer
Kein anderer Komponist hat in seinem Leben so oft den Kalender wechseln müssen wie Georg Friedrich Händel: Als er am 23. Februar 1685 in Halle zur Welt kam, herrschte dort noch der Julianische Kalender. Erst 1700 zogen die protestantischen Reichsstände mit den Katholiken gleich, indem sie zehn Tage strichen, um endlich den Gregorianischen Kalender zu übernehmen. Nach demselben hatte Händel fortan am 5. März Geburtstag, doch sollte er dieses Datum nicht länger als 12 Jahre feiern können, so lange er nämlich in Halle und Hamburg, Rom und Hannover lebte. Seine Übersiedlung nach England katapultierte ihn zurück in den Julianischen Kalender, der im Inselreich noch bis 1752 galt. Fortan durfte Händel wieder den 23. Februar als seinen Geburtstag feiern und alle seine Londoner Werke an Daten des so genannten „Alten Stils“ zur Uraufführung bringen. Erst mit dem British Calendar Act of 1751 wurde verfügt, dass im September 1752 elf Tage wegfielen und das United Kingdom endlich mit dem Kontinent gleichzog. Damit rutschte Händels Geburtstag während seiner letzten sechs Lebensjahre auf den 6. März.
Händels zweiter England-Urlaub
Nur dieser englischen Zeitverschiebung ist es zuzuschreiben, dass der junge Händel seine zweite Londoner Oper Il Pastor fido anno 1712 am Festtag der Heiligen Cäcilie aus der Taufe heben konnte, dem 22.11., während man auf dem Kontinent schon den 5.12. zählte, den Montag nach dem ersten Advent. Die Londoner Musiker ehrten an diesem Tag ihre Schutzheilige, bevor sie abends in Händels Opernorchester saßen. Derweil nutzte sein Hannoveraner Dienstherr, der zukünftige König Georg I. von England, den Advent zum üblichen Jagdausflug nach Göhrde. Seinem Hofkapellmeister Händel hatte der Kurfürst einen zweiten England-Urlaub bewilligt, damit er an den Ufern der Themse durch einen neuerlichen Opernerfolg Werbung für das Haus Hannover machte, vor allem aber, damit er die unberechenbare Queen Anne auskundschaftete. Als ihr designierter Nachfolger war der Kurfürst aus Niedersachsen bei den Engländern denkbar unbeliebt. Umso genauer musste man alle Intrigen bei Hofe beobachten, und wem hätten sich leichter die Türen von Whitehall geöffnet als einem genialen Musiker wie Händel? Der Hallenser hatte derweil Sorgen mit der Primadonna seiner neuen Oper. Ende Oktober 1712 war sie noch nicht in London eingetroffen, wie der Philosoph Leibniz in einem Brief aus London lesen konnte: „Die Pilota ist nicht überkommen, … der Hannoversche Capellmeister Hr. Händel sagte, daß sie schon auf der Reise u. sehr verlanget, weilen die Opera balt angehen würde.“ Mit anderen Worten: Einen Monat vor der Uraufführung war die Primadonna noch nicht in London eingetroffen!
Hirtenoper zu Weihnachten
Das verspätete Eintreffen der Pilota war nicht der einzige Grund dafür, warum Händel mit Il Pastor fido nicht an den rauschenden Erfolg seines Rinaldo vom Vorjahr anknüpfen konnte. Owen Swiney, der Intendant des Queen's Theatre, stattete Händels Hirtenoper mit alten Kostümen und einem Einheitsbühnenbild aus: „Das Bühnenbild stellte nur die Landschaft von Arkadien dar, die Kostüme waren alt, und die Oper war kurz", notierte ein enttäuschter Augenzeuge. Es war eine Sparproduktion, damit man sich die aufwendigen „Special effects" von Händels nächster Oper Teseo auch leisten konnte. Auf der Bühne fehlten die großen Sängerstars wie der Altkastrat Nicolini. Zudem konnte das Publikum mit den erlauchten Schäferdialogen im Stil der römischen Accademia dell'Arcadia nichts anfangen. Für seine treuen Hirten hatte Händel die schönsten Pastoralarien aus seinen römischen Kantaten und Serenaden der Jahre 1707 und 1708 wieder aufleben lassen, doch fehlte dafür in London das erlauchte römische Publikum. Den Engländern waren diese Heldinnen und Helden zu aseptisch, ihre Dialoge zu spannungsarm. Selbst Händels schönste Melodien konnten die Hirtengespräche nach Guarini nicht in eine Oper aus Fleisch und Blut verwandeln. Zumindest an Weihnachten hätten die Londoner eine Parallele zwischen den Hirten aus Arkadien und den Hirten an der Krippe ziehen können. In Rom wäre derlei selbstverständlich gewesen, doch in London traf Händels Hirtenoper auf taube Ohren.
Orchestersuite zum Auftakt
Zumindest ein Element der neuen Oper versetzte die Londoner in Entzücken: die Ouvertüre. Händel schrieb nicht nur eine „französische Ouvertüre“ mit pathetischen punktierten Rhythmen und einem fugierten Allegro in der Mitte, somdern fügte eine ganze Suite aus brillanten Orchestersätzen hinzu. Damit erinnerte er die Londoner an den alten Brauch aus Purcells Tagen, lange Theaterabende mit üppiger Orchestermusik zu beginnen. Unter Händels Orchesterwerken ist diese Suite aus der Urfassung von Il Pastor fido bis heute eine Rarität, weil man meistens die Ballettmusiken aus der späteren Fassung der Oper von 1734 vorzieht. Doch gerade hier, im Vorspiel von 1712, offenbart sich die geniale Orchestersprache des jungen Händel: Zwei aussdrucksstarke Largo-Sätze gehen in tänzerisch quirlige, mitreißende Allegro-Sätze über. Der erste Oboist kann in schönen Soli glänzen oder im Trio mit dem zweiten Oboisten und dem Fagottisten agieren. Im Finale kommt sogar eine Solovioline hinzu. Unnötig zu sagen, dass Händel aus einzelnen dieser Sätze auch späterhin reichlich Kapital geschlagen hat.
Orgelspiel in St Paul's
Über die privaten Lebensumstände des jungen Hallensers während seines zweiten Londoner Aufenthalts ist wenig bekannt. Angeblich wohnte er bei einem gewissen Mr. Andrews aus Barn-Elms in Surrey, der auch ein Haus in der City of London besaß. Wie sehr es ihm dort an geeigneten Musikinstrumenten mangelte, geht aus einer Anekdote hervor, die der Musikhistoriker Hawkins von Händels häufigen Besuchen in der St. Paul's Cathedral erzählte:
Wenn Händel keine besonderen Verpflichtungen hatte, ging er am Nachmittag oft nach St. Paul's, wo Mr. Green, obschon er damals nicht der Organist war, sich sehr um Höflichkeiten für ihn bemühte. Durch ihn wurde Händel den besten Sängern des Chores vorgestellt. In Wirklichkeit ging es ihm darum, auf der Orgel von St. Paul's zu spielen, die er sehr mochte. Sie war von Smith gebaut worden und damals ein fast neues Instrument. Brind war der Organist und kein besonders gefeierter Spieler. Der Klang des Instruments gefiel Händel, und jederzeit genügte nur ein kleiner Fingerzeig, um ihn dazu zu überreden, darauf zu spielen; doch sobald er einmal die Orgelempore erklommen hatte, war er nur sehr schwer wieder davon wegzubringen. Er war bekannt dafür, dass er nach dem Evening Service für eine Zuhörerschaft spielte, die den ganzen Chorraum füllte. Nach seiner Aufführung pflegte er mit den führenden Sängern des Chores in die Queen Anne's Tavern am Kirchhof von St. Paul's zu gehen. Dort gab es einen großen Raum mit einem Cembalo darin, und oftmals wurde ein Abend mit Musik und musikalischer Konversation zugebracht.
Auf diese Art machte es sich der Hallenser Händel in London an den freien Abenden des Advents 1712 gemütlich, während im Hause von Mr. Andrews schon das Libretto des Teseo darauf wartete, von ihm vertont zu werden.
Zum Hören:
Händel: Il pastor fido, Kommentar zur Einspielung der Urfassung von 1712 mit dem Ensemble La nuova musica unter David Bates
https://www.youtube.com/watch?v=CVRZzt90SNw
Händel: Ouvertüre und Suite aus der Urfassung der Oper Il Pastor fido (London, 1712), B'rock Orchestra, Lidewij Van der Voort
https://www.youtube.com/watch?v=cOUta_CnEd4
Passacaglia g-Moll, HWV 432, Jonathan Scott an der Snetzler Pipe Organ of St Laurence's Church, Ludlow, UK