Advent in Boppard 6.12.1898
Auch am Rheinufer ist so manches schöne Weihnachtslied erdacht und komponiert worden wie anno 1898 von Engelbert Humperdinck in Boppard.
Weihnachtspost in Boppard
von Karl Böhmer
Boppard, am Nikolaustag 1898 – im Rheinland ein ungewöhnlich milder Tag: 11 Grad, heiter bis wolkig, die Sonne lädt zu Spaziergängen am Rheinufer ein. Gerade hat sich Engelbert Humperdinck in der Diele seiner Villa hoch über Boppard Mantel und Schal übergeworfen, da bringt der Postbote einen Brief seiner Schwester Adelheid ins Haus. Ungeduldig reißt der Komponist das Schreiben auf, denn seit Frau Wette die Verse zu seiner Oper Hänsel und Gretel so kind- und mundgerecht gedichtet hat, dass alle Welt sich vor Entzücken kaum zu fassen weiß, wartet der Bruder sehnsüchtig auf neue Weihnachtsverse seiner Schwester.
Humperdinck-Schlösschen mit Krupp-Flügel
Der Welterfolg der Oper hat Humperdinck zum stolzen Eigentümer seiner eigenen Villa gemacht. „Humperdinck-Schlösschen“ – so nennen sie die Bopparder seit seinem Eintreffen 1897. Oft genug tönen aus den offenen Fenstern die hinreißend schönen Melodien des begnadeten Meisters. Am 7. Dezember 1898 sitzt er wieder an jenem Flügel, den ihm einst der Großunternehmer Alfred Krupp schenkte – zum Dank für den Dienst als Hauspianist und Entertainter in der Villa Hügel. Es ist dasselbe Instrument, an dem er Hänsel und Gretel komponiert hat. Nun steht es in Boppard, und seine Tasten bringen die allerliebste F-Dur-Melodie zum Klingen, die dem Komponisten zum Weihnachtspoem seiner Schwester just einen Tag nach Nikolaus eingefallen ist. Seit diesem Tag beglückt das Lied Weihnachten zahllose Menschen weltweit, die sich aufs Fest freuen.
Leise weht's durch alle Lande
Was die Rheinische Landesbibliothek Koblenz bis heute unter der Signatur H 92/10 verwahrt, ist eine kleine Kostbarkeit im weiten Meer der Weihnachtslieder: das autographe Manuskript jenes Liedes Weihnachten, das Humperdinck auf den 7. Dezember 1898 datiert hat. Den Text hätte seine Schwester wahrlich kaum holdseliger dichten können:
Leise weht's durch alle Lande
Wie ein Gruß vom Sternenzelt,
Schlinget neue Liebesbande
Um die ganze weite Welt.
Jedes Herz mit starkem Triebe
Ist zu Opfern froh bereit,
Denn es naht das Fest der Liebe,
Denn es naht die Weihnachtszeit.
Und schon hat mit tausend Sternen
Sich des Himmels Glanz entfacht,
Leise tönt aus Himmelsfernen
Weihgesang der heil'gen Nacht.
Hell aus jedem Fenster strahlet
Wundersam des Christbaums Licht,
Und der Freude Schimmer malet
Sich auf jedem Angesicht.
Lichte Himmelsboten schweben
Ungeseh'n von Haus zu Haus;
Selig Nehmen, selig Geben
Geht von ihrer Mitte aus.
O willkommen, Weihnachtsabend,
Allen Menschen, groß und klein!
Friedebringend, froh und labend
Mögst du allen Herzen sein!
Seelengesang in F-Dur
„Friedebringend, froh und labend“ wirkt auch Humperdincks Musik – vom ersten bis zum letzten Ton: Die helle, hohe Klavierbegleitung umhüllt die schlichte Melodie so flockig wie zarter Schnee. Unaufgeregt spielt die Harmonie von F-Dur nach As-Dur und c-Moll hinüber, ohne jede chromatische Komplikation. Die letzte Strophe ist wunderbar als Höhepunkt herausgearbeitet. Ihre Wiederholung hat Humperdinck „ad libitum“ mit einem dreistimmigen Frauenchor unterlegt – sicher ein Zeugnis der geselligen Aufführung am Heiligabend im Familienkreis, wo sich große und kleine Sängerinnen um den Christbaum versammelten. Nur drei Mal stellte der Komponist im „Humperdinck-Schlösschen“ einen Christbaum auf und ließ den Zauber der Weihnacht durch die weiten Räume wehen – ganz so, wie es seine Schwester in ihren Versen besungen hatte. Von 1897 bis 1899 wurde Boppard für die Familie zum Hauptwohnsitz, dann zogen die Humperdincks nach Berlin weiter, und Boppard blieb als pures Sommerdomizil erhalten.
So schlicht und ergreifend die Urfassung auch klingt: Spätere Bearbeiter ließen sich vom Chorschluss zu üppigen Orchesterarrangements inspirieren - ganz im Stil von Humperdincks genialer Orchestrierung zu Hänsel und Gretel. Selbst das schlichteste Lied des Meisters konnte dem Nimbus seines Opernwelterfolges nicht entgehen.
Zum Hören:
Christina Landshamer singt Weihnachten von Engelbert Humperdinck, am Klavier: Hinrich Alpers
https://www.youtube.com/watch?v=2pjxMjSmc8I
Katharina Konradi singt Weihnachten von Engelbert Humperdinck in der Orchesterfassung, Sächsische Staatskapelle Dresden, Petr Popelka