Advent in Dessau 7.12.1845
Am 7. Dezember 1845, dem zweiten Adventssonntag, arbeitete Felix Mendelssohn in Dessau am Text seines neuen Oratoriums Elias, doch in Gedanken war er noch ganz bei Jenny Lind.
Advent zwischen Elias und Jenny Lind
von Karl Böhmer
Schon seit Jahren hatte sich Mendelssohn zusammen mit seinem Theologenfreund Julius Schubring die kernige Gestalt des Propheten Elias vorgenommen, aber keinen rechten Anfang für sein Oratorium gefunden. Nun aber, in der zweiten Adventswoche 1845, skizzierten die beiden in wenigen Tagen den gesamten Textentwurf. Mendelssohn war geradezu beflügelt von dem Stoff. Ob es daran lag, dass Dessau die Heimatstadt seines Großvaters Moses Mendelsohn war, dessen guter Geist über dem Vorhaben schwebte? Oder lag es daran, dass der Komponist immer noch von einer überirdischen Sängerin träumte, die auch im neuen Oratorium eine Rolle spielen sollte? Jenny Lind hatte unter seiner Leitung zwei Konzerte im Leipziger Gewandhaus gegeben. Sie zählten zu den glücklichsten Abenden in Mendelssohns Leben,
Jenny Lind in Leipzig
Meyerbeer hatte die schwedische Sopranistin Ende 1844 an die Berliner Hofoper geholt. Ihre Lobeshymnen füllten alle Gazetten. Auch Mendelssohn war neugierig geworden und hörte sie als Norma, Agathe und Donna Anna in Berlin – ein einschneidendes Erlebnis: „In Jahrhunderten wird nicht eine Persönlichkeit gleich der ihrigen geboren.“ So sagte er später zu dem dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen über Jenny Lind. Es gelang ihm, die „schwedische Nachtigall“ zu einem Adventskonzert in Leipzig zu überreden, aus dem am Ende sogar zwei wurden.
Gewandhauskonzert am 4. Dezember
Die Leipzigerinnen und Leipziger konnten es kaum erwarten, „die Lind“ zu sehen und zu hören: „Als sie endlich auf dem Podium sichtbar wurde, diese schlanke, mädchenhafte Erscheinung mit dem blonden vollen Haar, ganz in rosa Seidenstoff gehüllt, an der Brust und im Haar weiße und rosenrote Kamelien, mit der keuschen Grazie ihres Wesens, so ohne alle Ostentation, da löste sich der Bann und jubelnder Zuruf ertönte.“ So hat es die Augenzeugin Elise Polko beschrieben. Beim ersten Konzert am 4. Dezember bezauberte sie das Leipziger Publikum zunächst in ihren Opernpartien: „Beide Arien, sowohl die Sortita der Norma als die Arie der Donna Anna: Ich grausam, o mein Geliebter? sang sie mit deutschem Texte, dessen Aussprache, nebenbei gesagt, selten von einer geborenen Deutschen so deutlich und correct gehört werden mag, als von ihr, der Ausländerin. Wir versichern, beide Musikstücke noch nie in solcher Vollendung gehört zu haben, und gedenken nur des wunderbar schönen Eindrucks, den im Mittelsatze der Mozart’schen Arie bei dem Wiedereintritte der Hauptmelodie die musterhafte, durch kein Athemholen unterbrochene Verbindung der Töne hervorbrachte.“ So schrieb im Dezember 1845 ein Kritiker der Allgemeinen Musikalischen Zeitung in Leipzig.
Nach den Opernarien mit Orchester wurden Lieder vorgetragen, und Mendelssohn trug als Klavierbegleiter die Sopranstimme der Lind mühelos bis in höchste Höhen. Zum Schluss versetzte sie das Publikum mit einem ausgehaltenen Fis im Pianissimo in Ekstase. Damit beendete sie das schwedische Volkslied, das sie wie immer ans Ende des Programms setzte. „Es war etwas so Eigentümliches, so Hinreißendes; man dachte nicht an den Concertsaal, die Volksmelodien übten ihre Allmacht aus, vorgetragen von einer so reinen Weiblichkeit mit dem unsterblichen Gepräge des Genies. Die jugendfrische schöne Stimme drang in alle Herzen; hier herrschte Wahrheit und Natur. Alles erhielt Bedeutung und Klarheit.“ So hat es Hans Christian Andersen beschrieben, für den Jenny Lind die Inkarnation der idealen Kunst war.
Benefizkonzert am 5. Dezember
Beim Adventskonzert für den „Orchester-Witwen-Fonds“ am 5. Dezember 1845 gab Jenny Lind zum Abschluss zwei Lieder von Mendelssohn zum Besten: „Zum Schlusse des Concerts sang Fräulein Lind zwei Lieder von Mendelssohn, Auf Flügeln des Gesanges und Leise zieht durch mein Gemüth, vom Componisten am Pianoforte begleitet, mit seelenvollem Klange und einer Innigkeit des Ausdrucks, die gewiss allen noch lange nachtönen wird, und accompagnirte sich zuletzt selbst ein schwedisches Lied, was den enthusiastischen Beifall auf den höchsten Gipfel trieb.“ Der junge Hamburger Carl Reinecke, später für Jahrzehnte selbst Chefdirigent des Gewandhausorchesters, erlebte diesen Abend als 21-jähriger mit und konnte sich noch 60 Jahre später, bei der Niederschrift seiner Erinnerungen, genau daran erinnern: „Die Mendelssohnschen Lieder sind heute von Sängern und Sängerinnen einigermaßen ad acta gelegt worden. Aber wenn sie dieselben so im Geiste des Komponisten vorzutragen wüssten wie dereinst Jenny Lind, so würden sie auch heute noch die gleiche Wirkung damit erzielen, wie jene in diesem denkwürdigen Konzerte … Es war einem, als dehnten sich die Wände des Saales auseinander und man sähe in den blauen Frühlingsäther hinein.“
Bahnfahrt an Nikolaus
Auf Flügeln des Gesangs machte sich Mendelssohn am 6. Dezember auf nach Dessau, um mit Freund Schubring am Elias zu arbeiten. Da aber die Bahnstrecke Leipzig-Berlin damals noch über Köthen in Anhalt führte, hatte Jenny Lind bis Dessau den gleichen Weg. Im gemütlichen Bahnabteil konnten die beiden den Leipziger Advent noch ein wenig nachklingen lassen, unterhielten sich über schwedische Weihnachtsbräuche und den preußischen Hof in Berlin. Beim Abschied verabredeten sie sich fürs neue Jahr zu weiteren gemeinsamen Konzerten in Leipzig. Als Hans Christian Andersen die beiden dort im Februar 1846 erlebte, entging ihm nicht, dass die Sängerin dem dirigierenden Komponisten „sehr zugetan“ war.
Zwei Liederhefte zu Weihnachten
Zum Weihnachtsfest stellte Mendelssohn für Jenny Lind ein Liederheft zusammen und vorsorglich, um keine Eifersucht zu wecken, ein zweites für seine Frau Cécile. Dieses Letztere mit 17 Liedern befindet sich heute in der Juilliard School of Music in New York: Liederbuch für Cécile M. B., Weihnachten 1845. Das zweite, nicht minder innige Heft ging an Jenny Lind nach Berlin, begleitet von einem Weihnachtsbrief voller Andeutungen:
Was mich betrifft, so wissen Sie, daß ich an jedem fröhlichen Fest, und an jedem ernsten Tage mein Leben lang Ihrer gedenke, und daß Sie Ihren Antheil davon mit nehmen müßten, Sie mögen wollen oder nicht. Sie wollen es aber, und Sie wissen von mir, daß es mir eben so geht, und das wird nimmermehr anders.
Die Vertrautheit, die aus diesen Zeilen spricht, spiegelt sich auch in den Liedern wider. Larry Todd, der in seiner großen Mendelssohn-Biographie auf diesen Brief und das weihnachtliche Liederheft hinwies, hob besonders das neu komponierte Lied des kleinen Heftes hervor, Mendelssohns eigentliches Weihnachtsgeschenk für die Lind:
Wenn sich zwei Herzen scheiden,
Die sich dereinst geliebt,
Das ist ein großes Leiden,
Wie's größer keines gibt.
Es klingt das Wort so traurig gar:
Fahr' wohl, fahr' wohl auf immerdar!
Wenn sich zwei Herzen scheiden,
Die sich dereinst geliebt.
Da ich zuerst empfunden,
Daß Liebe brechen mag:
Mir war's, als sei verschwunden
Die Sonn' am hellen Tag.
Im Ohre klang mir‘s wunderbar:
Fahr' wohl, fahr' wohl auf immerdar!
Da ich zuerst empfunden,
Daß Liebe brechen mag.
Zum Hören:
Elisabeth Grümmer singt Mozarts Rondò für Donna Anna „Non mi dir, bell’idol mio“ (Wiener Philharmoniker, Dimitri Mitropoulos, 1956)
https://www.youtube.com/watch?v=VNuKpwHqM48
Barbara Bonney singt Mendelssohns melancholisches Abschiedslied nach Versen von Geibel, komponiert am 22. Dezember 1845 als Weihnachtsgeschenk für Jenny Lind. Es erschien erst nach dem Tod des Komponisten im Druck (Op. post. 99 Nr. 5):
https://www.youtube.com/watch?v=E8RfCC0-svI
Rachel Willis-Sørensen singt die Arie „Höre, Israel“ aus dem Oratorium Elias, die Mendelssohn für die Stimme von Jenny Lind entworfen hat (mit dem Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano):
https://www.youtube.com/watch?v=VSOXoiIt1Nk
Der junge Bariton Georg Gädker singt die Arie des Elias „Es ist genug“ (mit dem Brabants Orkest unter David Parry). Eine Hommage an den Limburger Bischof Franz Kamphaus, der am 28. Oktober verstorben ist und am 5. November im Limburger Dom beigesetzt wurde. Mendelssohns „Es ist genug“ war seine Lieblingsarie in den letzten Lebensmonaten:
https://www.youtube.com/watch?v=YcTc3Fem18Y