Jenny Lind im Advent 1845
Am 13.12. feiern die Schweden alljährlich ihr Luciafest. 1845 lauschte Felix Mendelssohn auf einer Bahnfahrt gebannt der berühmten Jenny Lind, als sie ihm diesen Brauch erklärte.
Adventsreise mit der Bahn 1845
Köthen, Bachs berühmte Wirkungsstätte in Anhalt, kann noch einen zweiten Ruhmestitel für sich in Anspruch nehmen: Sein Bahnhof war der erste Eisenbahnknotenpunkt in der deutschen Geschichte. Ab 1841 traf dort die neu eröffnete Strecke von Halle zum Anhalter Bahnhof in Berlin auf die Magdeburg-Leipziger Eisenbahn. Am Nikolaustag des Jahres 1845 bescherte dieser Umstand den Köthenern einen wahrhaft sensationellen Anblick: Jenny Lind, die berühmte schwedische Sopranistin, wartete auf den Anschlusszug nach Berlin, in lebhaftes Gespräch vertieft mit Felix Mendelssohn, dem berühmtesten Komponisten und Dirigenten Deutschlands. Sie sprachen nicht etwa über Bach, sondern über schwedische Advents- und Weihnachtsbräuche, wie man einem Brieffragment Mendelssohns entnehmen kann.
Schwedische Weihnachtsbräuche
Die Bahnfahrt von Leipzig über Köthen gen Berlin führte Mendelssohn an jenem 6. Dezember nach Dessau, wo er dringend mit dem Textdichter seines geplanten Oratoriums über den Propheten Elias sprechen wollte. Jenny Lind fuhr weiter in die preußische Hauptstadt, wo sie fern der Heimat ein eher deutsches Luciafest feierte – eine Woche später, am 13.12. Was es damit auf sich hat, erklärte sie Mendelssohn während der winterlichen Bahnfahrt durch Anhalt. Die beiden waren noch beflügelt vom Gesang der Lind, mit dem sie das Publikum im Leipziger Gewandhaus am 4.12. bezaubert hatte – ein unvergesslicher Abend, den sie wie üblich mit einem schwedischen Lied krönte.
Schwedische Nachtigall
„Durch Jenny Lind habe ich zuerst die Heiligkeit der Kunst empfunden, durch sie habe ich gelernt, daß man sich selbst im Dienste des Höheren vergessen muß. Keine Bücher, keine Menschen haben besser und veredelnder auf mich als Dichter eingewirkt als Jenny Lind, und darum habe ich hier so lange und so lebhaft von ihr gesprochen.“ Kein Geringerer als Hans Christian Andersen hat diese Sätze niedergeschrieben. Fünf Seiten seiner Autobiographie Das Märchen meines Lebens widmete der dänische Märchendichter der märchenhaften Sängerin aus Schweden.
Andersen war nicht der Einzige, dem Herz und Mund überliefen vor Bewunderung für die „schwedische Nachtigall“. Zu ihren größten Bewunderern zählte Mendelssohn, der sie im Advent 1845 in Berlin in drei Opern erlebte. Am 2. Dezember, dem Dienstag nach dem ersten Advent, sah er sie in Bellinis Norma und war hingerissen. „In Jahrhunderten wird nicht eine Persönlichkeit gleich der ihrigen geboren“, sagte er später zu Hans Christian Andersen, als dieser Leipzig besuchte. Der Däne hat die Norma der Jenny Lind eindringlich beschrieben: „Ihre Norma ist plastisch, jede Stellung könnte einem Bildhauer zum schönsten Modell dienen, und doch fühlt man, daß dies Spiel die Eingebung des Augenblicks und nicht vor dem Spiegel einstudiert ist. ‚Norma, du heilige Priesterin’ singt der Chor und diese heilige Priesterin hat Jenny Lind aufgefaßt und zeigt es uns in der Arie: Casta diva.“ „An einigen Stellen verdufteten die Töne gleichsam.“ So schwärmte der Berliner Dichter Ludwig Rellstab.
Norma und schwedische Lieder
Es gelang Mendelssohn, Jenny Lind zu einem Adventskonzert in Leipzig zu überreden: Am 4. Dezember sang sie unter seiner Leitung mit dem Gewandhausorchester die großen Szenen der Donna Anna und der Norma sowie ein Duett zwischen Romeo und Julia aus Bellinis Capuleti e Montechi. Der berühmte Komponist und Dirigent kam sich dabei selbst ein wenig vor wie Romeo, wurde er doch von der jungen Schwedin ganz in ihren Bann geschlagen. Das galt auch für den Rest des Publikums: „Als sie endlich auf dem Podium sichtbar wurde, diese schlanke, mädchenhafte Erscheinung mit dem blonden vollen Haar, ganz in rosa Seidenstoff gehüllt, an der Brust und im Haar weiße und rosenrote Kamelien, mit der keuschen Grazie ihres Wesens, so ohne alle Ostentation, da löste sich der Bann und jubelnder Zuruf ertönte.“ So hat es die Augenzeugin Elise Polko beschrieben. Zum Schluss aber versetzte die junge Schwedin das Publikum mit einem ausgehaltenen hohen fis im Pianissimo in eine wahre Trance. Damit beendete sie das schwedische Volkslied, das sie wie immer ans Ende des Programms setzte. „In einem Concert sang Jenny Lind ihre schwedischen Lieder; es war etwas so Eigenthümliches, so Hinreißendes; man dachte nicht an den Concertsaal, die Volksmelodien übten ihre Allmacht, vorgetragen von einer so reinen Weiblichkeit mit dem unsterblichen Gepräge des Genies. Die jugendfrische schöne Stimme drang in alle Herzen; hier herrschte Wahrheit und Natur, Alles erhielt Bedeutung und Klarheit.“ So hat es noch einmal Hans Christian Andersen beschrieben. Auch in ihrem zweiten Leipziger Konzert am 5.12. zugunsten des Orchester-Witwen-Fonds rührte die Lind das Publikum mit ihren schwedischen Liedern zu Tränen.
Mendelssohnlieder zu Weihnachten
Zum Dank schickte ihr Mendelssohn am 23. Dezember 1845 ein Liederheft als Weihnachtsgeschenk nach Berlin. Erst am Tag zuvor hatte er das Lied „Wenn sich zwei Herzen scheiden“ auf einen Text von Geibel komponiert: „Wenn sich zwei Herzen scheiden, die sich dereinst geliebt – das ist ein großes Leiden, wie’s größer Keines gibt.“ Dieses Geschenk begleitete er mit vielsagenden Worten: „Was mich betrifft, so wissen Sie, Dass ich an jedem fröhlichen Fest und an jedem ernsten Tage mein Leben lang Ihnen gedenke, und daß Sie Ihren Antheil davon mitnehmen müßen, Sie mögen wollen oder nicht. Sie wollen es aber, und Sie wissen von mir, daß es mir eben so geht, und das wird nimmermehr anders.“
Zum Hören:
Felix Mendelssohn: „Wenn sich zwei Herzen scheiden“ aus dem Liederheft für Jenny Lind, Barbara Bonney, Sopran; Geoffrey Parsons, Klavier
https://www.youtube.com/watch?v=ku1UrHznxyM
Felix Mendelssohn: „Weihnachtslied“, Christiane Karg, Sopran; Gerold Huber. Klavier
https://www.youtube.com/watch?v=WdT__WHsn-s
Anonymes Lied: Santa Lucia, Anne Sofie von Otter, Mezzosopran
https://www.youtube.com/watch?v=VG3Q3pQZhY8
Vincenzo Bellini: „Casta Diva“ aus Norma, Joan Sutherland