Alle Bonner Studierenden kennen die Regina Pacis über dem Eingang zur Universität. Auch Joseph Haydn schritt unter ihr durch, als er 1790 zur Weihnachtsmesse am Bonner Hof eilte.

Abschied von Haydn, 14.12.1790

Am 14.12.1790 verabschiedete Mozart seinen Freund Haydn mit Musik und einem Abendessen. Die große Reise nach London stand bevor – und ein Weihnachtsfest am Bonner Hof. 

Abschiedsessen in Wien

Eine leise Melancholie lag am 14. Dezember 1790 über der Wiener Wohnung Mozarts. Der 30-jährige Maestro musste von seinem 58-jährigen Freund Joseph Haydn Abschied nehmen, der am Folgetag zum größten Abenteuer seines Lebens aufbrach: zur Reise nach London. Der weltgewandte Mozart, der zehn Jahre seines Lebens auf Reisen verbracht hatte und Englisch wie Französisch und Italienisch fließend sprach, hatte seine Zweifel, ob der Provinzler Haydn den Anforderungen der Weltstadt gewachsen war. Darauf soll Haydn mit dem berühmten Satz gekontert haben: „Meine Sprache, die Musik, versteht man auf der ganzen Welt“. Nicht nur musikalisch war Haydn bestens gerüstet: Der Handwerkersohn aus Niederösterreich, der Jahrzehnte lang im treuen Dienst des Hauses Esterházy kaum über Eisenstadt hinausgekommen war, erwies sich auf der großen Reise als erstaunlich zäh und wendig, getragen von seiner Neugier, seinem gesunden Gottvertrauen und seinem Geschäftssinn. Mozarts Befürchtungen waren unbegründet, nicht aber die düstere Vorahnung, die beide Komponisten beim Lebewohl beschlich. Beide spürten plötzlich – so haben es die Zeitgenossen empfunden –, dass sie sich niemals wiedersehen würden. Natürlich dachten die Wiener Freunde eher daran, dass der alte Haydn von der weiten Reise nicht zurückkehren werde. Dass es Mozart war, der kein Jahr mehr zu leben hatte, konnte keiner ahnen.

Abschiedsquintett KV 593

Ihren letzten Abend verbrachten die beiden mit Musik bei einem festlichen Abendessen in Mozarts Wohnung. Nicht zufällig hatte Mozart gerade ein neues Streichquintett in D-Dur vollendet (KV 593). Es war für seine „Quartettsubskription“ bestimmt, also für Kammerkonzerte gegen Eintritt, die er im Advent 1790 veranstalten wollte. Beim Abschiedsessen für Haydn wird das D-Dur-Quintett sicher erklungen sein, hatten die beiden Komponisten doch die schöne Angewohnheit, sich die Bratschenstimmen der Mozartschen Quintette zu teilen. 

Könnte Mozart sein D-Dur-Quintett eigens zu Haydns Abschied komponiert haben, als ein klingendes „Les Adieux“? Die langsame Einleitung mit dem Cellosolo und der schmerzlichen Antwort der hohen Streicher wirkt wie eine Abschiedsszene: Haydn (Cello) muss von seinen Wiener Freunden (Geigen und Bratschen) scheiden. Das burschikose Marschthema des folgenden Allegro wirkt wie ein Aufbruch in die weite Welt, wo den Wanderer manche Störungen erwarten. Kurz vor Schluss aber kehren die Schatten der Einleitung wieder: Sie erklingt ein zweites Mal, noch schmerzlicher als zu Beginn. Seinem Freund Haydn werden die Feinheiten des ersten Satzes ebenso wenig entgangen sein wie die latente Trauer des G-Dur-Adagios, die raffinierten Kanons im Menuett und die Doppelfuge im chromatischen Finale. All dies nahm er mit auf seine weite Reise und merkte es sich gut für seine „Londoner Sinfonien“.

Besuch aus London

Haydns Entschluss, zum ersten Mal in seinem Leben Österreich zu verlassen, war ohne Vorwarnung gefallen. Plötzlich hatte ein Besucher aus London in seiner Tür gestanden und ihm ein Engagement unterbreitet, das er nicht ausschlagen konnte. Es war Johann Peter Salomon, seines Zeichens Geiger und früherer Kapellmeister beim Prinzen Heinrich von Preußen, nun der erfolgreichste Konzertmanager Londons. Zufällig war er auf dem Kontinent unterwegs, als er in einer Kölner Zeitung von den dramatischen Ereignissen in Eisenstadt las: Der neue Fürst Esterházy hatte die berühmte Hofkapelle seines Vaters entlassen und Haydn freigestellt. Salomon witterte die Chance seines Lebens. Kaum in Wien angekommen, stellte er sich mit einem knappen Satz bei Haydn vor: „Ich bin Salomon aus London und komme, um Sie abzuholen; morgen werden wir einen Akkord schließen.“ Tatsächlich wurden sich der Manager aus London und der Compositeur aus Wien schnell handelseinig. Schon am 15. Dezember reisten die beiden gen Nordwesten.

Entlassung in Eisenstadt

Noch im Herbst hatte alles nach einem ruhigen Jahresschluss in Diensten des Fürsten Esterházy ausgesehen. Haydn bereitete gerade die Erstaufführung von Mozarts Le nozze di Figaro am Schlosstheater von Esterháza vor, als völlig überraschend sen langjähriger Dienstherr starb: Fürst Nikolaus „der Prachtliebende“. Sein Sohn und Nachfolger, Fürst Paul, entließ Ende September auf einen Schlag die gesamte Hofkapelle. Haydn durfte sich mit einer stattlichen Pension nach Wien zurückziehen, wo er ein Zimmer auf der Wasserkunstbastei bezog. Dies alles hatte der findige Salomon herausgefunden, und nun saß er mit Haydn in der Kutsche Richtung Kanalküste. Es war eine unwirtliche Weihnachtsreise, die Haydn zwar beschwingt antrat, die ihm aber wegen „der Unordnung des Schlafs, verschiedenen Speisen und Getränks“ schwer zu schaffen machte. Im langsamen Reisetempo des späten 18. Jahrhunderts gelang es nicht mehr, vor dem Fest London zu erreichen. So hatte sich Haydn das Weihnachtsfest des Jahres 1790 sicher nicht vorgestellt: als Reisender auf dem Weg zwischen Wien und London bei schlechtestem Wetter im Rheintal. Gott sei Dank gab es den Bonner Hof, wo ihn zum Weihnachtsfest eine Überraschung erwartete.

Weihnachten in Bonn

Kurfürst Max Franz von Köln, der jüngste Bruder von Kaiser Leopold II. und erzmusikalische Habsburger, war offenbar von Salomon vorgewarnt worden, denn er bereitete dem berühmten Gast aus Wien einen königlichen Empfang. Haydn selbst erzählte die Geschichte Jahre später dem Landschaftsmaler Albert Christoph Dies, der sie 1810, ein Jahr nach des Meisters Tod, in seinen Biographischen Nachrichten von Joseph Haydn veröffentlichte. Dort heißt es auf S. 78 über das Weihnachtsfest in Bonn: „In der Residenzstadt Bonn wurde er auf mehr als eine Art überrascht. Er traf daselbst an einem Sonnabend ein und bestimmte den folgenden Tag zur Ruhe.“ Dass es sich dabei um Heiligabend und den ersten Weihnachtsfeiertag handelte, hat Dies seltsamerweise verschwiegen. Sie fielen anno 1790 tatsächlich auf Samstag und Sonntag. Die Heilige Nacht verbrachte der Komponist mit Salomon in einer Bonner Wohnung, die im vorhinein für den Aufenthalt gebucht worden war.

Am ersten Feiertag gingen die beiden zur Messe in die kurfürstliche Residenz: „Salomon führte Haydn am Sonntage in die Hofkapelle, eine Messe anzuhören; kaum waren Beyde in die Kirche eingetreten, und hatten sich einen schicklichen Platz gewählt, so nahm das Hochamt seinen Anfang. Die ersten Accorde kündigten ein Werk der haydn’schen Muse an. Unser Haydn hielt es für einen Zufall, der sich so gefällig gegen ihn bezeigte, ihm schmeicheln zu wollen; indessen war es ihm sehr angenehm, sein eigenes Werk mit anzuhören.“ Leider ist nicht überliefert, um welche Haydn-Messe es sich handelte. Da die sechs späten Messen noch nicht geschrieben waren, wählten die Bonner Musiker vielleicht Haydns erste Missa Cellensis, also „Mariazeller Messe“. Im Hörbeispiel ist das bewegende Incarnatus aus dieser Messe zu hören, eine von Haydns schönsten Tenorarien.

Weiter heißt es im Bericht über Haydns Bonner Weihnachtfest: „Gegen das Ende der Messe, näherte sich eine Person und lud ihn ein, sich in das Oratorium zu begeben, woselbst er erwartet würde. Haydn begab sich dahin, und war nicht wenig erstaunt, als er sah, daß der Churfürst Maximilian ihn dahin hatte rufen lassen, ihn gleich bey der Hand nahm und ihn seinen Virtuosen mit den Worten vorstellte: ‚da mache ich sie mit ihrem von ihnen so geschätzten Haydn bekannt.' Der Churfürst ließ beyden Theilen Zeit, einander kennen zu lernen,  und, um Haydn einen überzeugenden Beweis seiner Hochachtung zu geben, lud er ihn an seine Tafel. Haydn kam durch diese Einladung in nicht geringe Verlegenheit; denn er und Salomon hatten in ihrer Wohnung ein kleines Diner veranstaltet, es war schon zu spät um Abänderung zu treffen. Haydn mußte also zu Entschuldigungen die Zuflucht nehmen, die der Churfürst für gültig annahm. Haydn beurlaubte sich darauf, und begab sich nach seiner Wohnung, woselbst er von einem nicht erwarteten Beweise des Wohlwollens des Churfürsten überrascht wurde; sein kleines Diner war nämlich auf des Churfürsten stille Ordre in ein Großes zu 12 Personen, verwandelt, und die geschicktesten Musiker dazu eingeladen worden.“ Auf diese Weise konnte Haydn den Abend des ersten Weihnachtsfeiertags im gemütlichen Kreis von Seinesgleichen verbringen, statt sich der Neugier der Bonner Höflinge auszusetzen. Ob sich auch der junge Beethoven unter den „geschicktesten Musikern“ befand, die der Kurfürst an Haydns Tisch lanciert hatte?

Neujahr in England

Den weiteren Verlauf der Reise bis zur Ankunft in London hat Haydn wohlweislich mit keinem Wort erwähnt: „Haydn fand über den weiteren Fortgang der Reise bis London nichts anzumerken,“ schrieb Dies. Kaum jemals dürfte der Meister einen so unwirtlichen Silvesterabend erlebt haben wie in Calais: „Die eingefallene schlechte Witterung und der beständig anhaltende Regen verursachet, dass ich eben erst abends nach Calais angekommen und morgen früh um 7 Uhr über Meer nach London abgehen werde“, schrieb er an Frau von Genzinger. Am stürmischen Neujahrsmorgen wagten Haydn und Salomon die Fahrt über den Ärmelkanal. Für den 58-jährigen war es nicht nur der Beginn eines neuen Jahres, sondern der Auftakt zu einem neuen Lebensabschnitt. Das Abenteuer London begann – kaum drei Monate nach der Entlassung aus Esterházyschen Diensten.

Zum Hören:

Mozart: Streichquintett D-Dur KV 593, historische Aufnahme mit dem Pro Arte Quartett von 1936

https://www.youtube.com/watch?v=l1o3CvSvHRM

Haydn: Missa Cellensis Hob. XXII:5, Et incarnatus est, Richard Croft, Tenor; Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski

https://www.youtube.com/watch?v=KXRG0R-GqzY