Advent in Koblenz, 16.12.1851
Im Advent 1851 gab Henriette Sontag ihr lange erwartetes Debüt in ihrer Vaterstadt Koblenz. Das Comeback der gefeierten Primadonna nach 20 Jahren hatte wirtschaftliche Gründe.
Henriette Sontag in ihrer Vaterstadt
von Karl Böhmer
Am 3. Dezember 1851 bestätigte eine gewisse Gräfin Rossi auf dem Postamt zu Frankfurt, dass sie vom Oberbürgermeister der Stadt Koblenz einen Brief erhalten habe. Der Rückschein mit ihrer Unterschrift wurde „mit erster Post an das Post-Amt zu Coblenz“ expediert und hat sich bis heute erhalten. Die Dame, die dort so elegant mit „H:tte Gräfin Rossi“ unterschrieb, war keine Geringere als Henriette Sontag, Deutschlands berühmteste Sopranistin und seit 1827 mit dem savoyischen Gesandten, Graf Carlo Rossi, verheiratet. Die Jahre ihres Triumphs lagen schon lange zurück: Euryanthe unter Webers Leitung; die Uraufführung der Neunten Sinfonie von Beethoven mit dem Komponisten am Pult; glanzvolle Aufführungen der Sonnambula von Bellini, der Regimentstochter von Donizetti, der großen Opern von Rossini und Mozart. Geradezu legendär war der Ruf, den sich die Sontag in diesen Rollen erworben hatte. In den Herzen aller Musik- und Opernfreunde war sie unvergessen. Deshalb verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: „Die Sonntag kehrt auf die Bühne zurück!“ Der besagte Brief aus Koblenz hatte genau damit zu tun.
Comeback mit Mitte Vierzig
Für das überraschende Comeback der legendären Sängerin gab es dramatische Gründe: Die Revolution von 1848 hatte ihr Vermögen vernichtet und die diplomatische Stellung ihres Mannes ins Wanken gebracht. Im Neujahrsbrief 1849 offenbarte sie einer Prager Freundin die doppelte Katastrophe: „Den größten Teil meines Vermögens haben wir in Staatspapieren am 18. März hier eingebüßt. Das Wenige, was uns bleibt an eigenem Vermögen, ist unbedeutend und kaum hinreichend, in einem schlechten italienischen Nest zu existieren. Verliert also Rossi seinen Posten, so sehe ich einer sorgenvollen Zukunft entgegen.“
Es kam, wie es kommen musste: Um den Lebensunterhalt für ihre Familie zu bestreiten, kehrte Gräfin Rossi als Henriette Sontag in die Opernhäuser und Konzertsäle zurück. In der Saison 1850/51 feierte sie ihr erfolgreiches Comeback auf der Londoner Opernbühne. Danach entschloss sie sich zu einer Konzert- und Operntournee durch Deutschland. Dies erfuhr auch der rührige Koblenzer Oberbürgermeister Alexander Bachem. Im besagten Brief von Anfang Dezember 1851 lud er die Sontag ein, in Koblenz zu gastieren, wofür es einen wahrhaft triftigen Grund gab: Am Zusammenfluss von Rhein und Mosel war die Sängerin am 3. Januar 1806 zur Welt gekommen. Ihr Vater war zwar geborener Mainzer und auch späterhin ist sie immer wieder nach Mainz zurückgekehrt, um ihre Großmutter zu besuchen. 1803 aber spielten die Eltern als Schauspieler im Engagement in Koblenz. Deshalb kam die spätere „Primadonna assoluta“ Deutschlands an der Koblenzer Straßenecke Plan und Entenpfuhl zur Welt. Von ihrer späteren Weltkarriere konnten die Koblenzer nur in der Zeitung lesen. 1851 griffen sie blitzschnell zu, um die Sontag endlich auch in ihrer Vaterstadt singen zu hören.
„Mein Nestchen von Vaterstadt“
Das Konzert wurde auf den 16. Dezember festgesetzt, den Dienstag nach dem dritten Advent. Natürlich empfing man den hohen Gast mit allen Ehren: „Begreifliche Genugtuung bereitete ihr insbesondere der festliche Empfang ihrer Vaterstadt Koblenz, wo der Oberbürgermeister und die Mitglieder des Magistrats sie an der Landungsbrücke begrüßten und abends nach dem Konzert ihr ein Ständchen und ein Fackelzug gebracht wurden.“ (Heinrich Stümcke, Henriette Sontag: Ein Lebens- und ein Zeitbild). Die Wiederbegegnung mit den Plätzen ihrer Jugend löste in der weitgereisten Sängerin allerdings keinerlei Nostalgie aus. Selbst Prinzessin Augusta von Preußen, die spätere Kaiserin, konnte sie nicht von der Annehmlichkeit der Stadt überzeugen: „Die Prinzessin von Preußen behauptet, sie fühle sich unbeschreiblich glücklich in meinem Nestchen von Vaterstadt, was ich aber weder begreife noch glaube. Ich könnte um keine Welt dort leben“, schrieb sie am 17. Januar 1852.
Perfektion, Koketterie und kalte Berechnung
Was hat die Sontag bei ihrem Koblenzer Adventskonzert anno 1851 gesungen? Das Gleiche wie an allen übrigen Stationen ihrer Konzertreise: Bravourarien von Rossini und Donizetti, Arien der Donna Anna aus Don Giovanni, ja sogar ein wenig Händel zum Advent. Direkt daneben gab sie die Polka aus der Oper Le tre nozze von Giulio Alary zum Besten, ein kokettes Bravourstückchen, was einen Kritiker in Prag wegen der Geschmacklosigkeit der Zusammenstellung irritierte.
Wie die Sontag 1851 gesungen hat, kann man in den zahlreichen Beschreibungen ihrer Stimme und Persönlichkeit genau nachlesen. Ungläubig nahmen die Kritiker zur Kenntnis, dass sie in den 20 Jahren seit ihrem Abschied von der Bühne nichts an stimmlichem Glanz oder jugendlicher Ausstrahlung eingebüßt hatte, im Gegenteil: „Die glänzenden Eigenschaften, welche die Sängerin Sontag entwickelte, sind resümiert folgende: eine in allen Lagen gleichmäßig schöne und schulgerechte Ausbildung einer bis auf die äußersten Register trefflich conservirten Stimme, ein ausgezeichnet voller, edler Tonanschlag, ein ungemein liebliches mezzo piano, welches nicht identisch mit dem gewöhnlichen mezza voce zu sein scheint, sondern den Eindruck eines mit voller Stimme hervorgebrachten piano macht, eine in ihrer Art einzige – weil heutzutage nicht mehr in diesem Grade cultivirte – Vocalisation, mit unvergleichlicher Leichtigkeit, Geschmeidigkeit und Ausdauer vereint, und endlich ein überaus feiner, geschmackvoller, künstlerisch abgerundeter Vortrag, der bei minutiöser Berechnung des Effectes die beabsichtigte Wirkung auf die Majorität nie verfehlen wird.“
So ließt sich die Beschreibung der Mitvierzigerin in der Neuen Zeitschrift für Musik, erschienen im Februar 1852, unmittelbar nach ihren Erfolgen in Koblenz, Düsseldorf und anderen Städten am Rhein. Man könnte meinen, der anonyme Kritiker sei ein rückhaltloser Bewunderer der Sontag gewesen. Mitnichten: Auf die genaue Beschreibung aller stimmlichen Vorzüge folgte die totale Vernichtung der Sängerin im Vergleich zur „schwedischen Nachtigall“ Jenny Lind. Dass der Autor dieser Zeilen kein Geringerer war als Hans von Bülow, der große Pianist, Dirigent und damals noch Wagnerianer, verrät den ästhetischen Hintergrund seines Urteils, denn eine Tragödin im Sinne des Musikdramas war diese Sängerin nicht:
„Henriette Sontag, die nächste Nachfolgerin von Jenny Lind in den dreifach erhöhten Eintrittspreisen, hat keinen Anspruch auf den Titel einer künstlerischen Erscheinung […] Poesie und Passion sind für uns unerläßliche Erfordernisse einer vollendeten (dramatischen) Gesangskunst, und weil Jenny Lind trotz ihrer eisig nordischen Natur von beiden doch noch zehnmal mehr besitzt als Henriette Sontag, müssen wir sie für eine viel bedeutendere Erscheinung erklären, steht sie gleich hinter letzterer im virtuosen Elemente weit zurück.“ Damit nicht genug, rechnete Bülow auch noch mit der Schauspielerin Sontag ab, und zwar vor dem Hintergrund ihres gesellschaftlichen Milieus: „In der Koketterie ist Frau Sontag unübertreffliche Meisterin, sie giebt das vollendetste Muster der raffinirtesten und polirtesten Koketterie, sie könnte die Koketterie erfunden haben […] Eine solche Koketterie ist nur in den Salons der haute volaille zu erlernen möglich; die Collaboration der Gräfin Rossi mit der Sängerin Henriette Sontag zeigt sich in diesem Punkte unverkennbar.“
Die teure Himmelsbotin
Ob die gefeierte Sängerin derlei Beckmesserei überhaupt zur Kenntnis nahm? Allenthalben wurden ihr vom Publikum Ovationen bereitet. Die Deutschland-Tournee war in dieser Hinsicht nur der Vorspann zu einer noch viel glänzenderen Unternehmung: 1852 brach sie zu einer Amerika-Tournee auf – erst in die USA, dann nach Mexiko. Mexiko Stadt sollte ihr zum Verhängnis werden: 1854 erkrankte sie dort an der Cholera und starb innerhalb weniger Tage. Auch die Koblenzer trauerten und erinnerten sich voller Wehmut an jenen unvergesslichen Dezembertag, der noch keine drei Jahre zurück lag.
Während jener glücklichen Monate, die sie anno 1851/52 in ihrer Heimat von Triumph zu Triumph geeilt war, regten sich auch kritische Stimmen gegen den „Hype“ um die Sängerin. Bei ihrem Gastspiel in Hannover trübten die hohen Eintrittspreise die himmlische Erscheinung:
Ein Engel bist Du der Vollendung,
Direkt gesandt vom Himmelsthron,
Nur forderst Du für Deine Sendung
Unmäßig hohen Botenlohn.
In Prag ersang die Sontag 6000 Gulden „zum Besten wohlthätiger Anstalten“ und verdiente daneben auch noch genug für ihre Familie. Beides fand der Prager Kritiker löblich, nur nicht ihr aristokratisches Auftreten: „Wenn die Sontag durch die Kunst ihre und ihrer Familie Erhaltung sicherzustellen sich entschließt, so finde ich diesen Entschluß an sich selbst ganz schön und zweckmäßig – ja es liegt sogar in solcher Thatsache ein offenbarer Triumph der Kunst; aber eben deshalb sollte sie auch nur die Künstlerin, nicht die Gräfin in den Vordergrund stellen, nicht mit bedecktem Kopf und en echarpe vor ein Publikum hintreten, dem sie nichts mehr und nichts weniger sein kann als eine Concertsängerin.“ Man sieht: Als Gräfin Rossi war Henriette Sontag für den Konzertbetrieb der Romantik ein schwer erträgliches Zwitterwesen. Ihrem Erfolg beim Publikum tat dies keinerlei Abbruch, auch nicht in ihrer Vaterstadt.
Zum Hören und Schauen:
Das legendäre Aufeinandertreffen der Sontag und der Malibran 1827 in Paris, mit dem lächelnden Rossini in der Mitte, aus dem italienischen Kinofilm Malibran von 1943:
https://www.youtube.com/watch?v=DySSgIOiYv0
Donizetti: „Convien partir“ aus La figlia del Regimento, Maria Callas, Orchestre des Concerts Colonne, Niola Rescigno
https://www.youtube.com/watch?v=ZY8j9r69_Ro
Mozart: Scena e Rondò der Donna Anna „Non mi dir“ aus Don Giovanni, Edita Gruberova, Teatro alla Scala 1987, Riccardo Muti