Der Dogenpalast und die Biblioteca Marciana im Winter. Gemälde von Giuseppe Borsato (1833) in der Galleria Tosio Martingengo in Brescia.

Vivaldi in Venedig, 2.12.1739

Den letzten Advent in seiner Heimatstadt Venedig verbrachte der 61-jährige Vivaldi wie üblich mit Komponieren: Nach seiner letzten Oper brachte er seine letzten Violinkonzerte zu Papier.

Vivaldis letzter Advent in Venedig

von Karl Böhmer

Am 2. Dezember 1739, dem Samstag vor dem ersten Advent, bereitete Antonio Vivaldi sein letztes Weihnachtsfest in Venedig vor. Die Lagunenstadt, seine Heimat seit 61 Jahren, zeigte ihm plötzlich die kalte Schulter. Im Vorjahr hatte man ihn als Orchesterleiter am Ospedale della Pietà nicht wiedergewählt – nach 33 Jahren treuer Dienste. Im August hatte sich der französische Musikkenner Charles des Brosses gewundert, wie wenig der weltberühmte Vivaldi in seiner eigenen Stadt geschätzt wurde, und im Dezember verkündete das Teatro Sant’Angelo, dass seine Dienste als Impresario auch nicht mehr benötigt würden. Es war Zeit zu gehen, um sein Glück anderswo zu versuchen. Wo, das konnten all jene erraten, die Vivaldis Namen im Libretto seiner aktuellen Oper lasen, des Eraspe, uraufgeführt am 7. November 1739 im Teatro Sant’Angelo. Dort stand zu lesen: „Musik von Don Antonio Vivaldi, Kapellmeister seiner Hoheit, des Herzogs von Lothringen, Großherzogs der Toskana“. Hinter dem Titel seines neuen Gönners verbarg sich kein Geringerer als Franz Stephan von Lothringen, Gemahl von Maria Theresia, Schwiegersohn des Kaisers und in Wien zuhause, obwohl er in Florenz die Medici als Großherzöge der Toskana beerbt hatte. Deshalb führte die letzte Reise des herrenlos gewordenen Vivaldi nicht an den Arno, sondern an die Donau. Im Laufe des Jahres 1740 machte er sich nach Wien auf. Am 28. Juli 1741 ist er dort in einer Wohnung unweit des Kärtnertortheaters verstorben. Begraben liegt der berühmteste Musiker Venedigs dort, wo sich heute das Gebäude der Technischen Universität Wien erhebt.

Abschied vom Opernhaus

Wie verabschiedet sich ein Jahrhundertgenie von seiner Heimatstadt? In seinem letzten Advent zeigte Vivaldi den Venezianern noch einmal, wer der wahre Meister von Oper und Concerto war. In der Oper Feraspe fasste er einige seiner schönsten Arien zu einem eindrucksvollen Pasticcio zusammen. Auf dem Höhepunkt der Verwicklungen sang der Soprankastrat Giacomo Zaghini in der Rolle des medischen Prinzen Astiage eine der berühmtesten Vivaldi-Arien noch einmal für die kundigen Ohren der Venezianer: „Gelido in ogni vena“, umgedichtet zu „Un certo freddo orrore“. Durch die Textänderung wurde das Bild des eisigen Schauers, der dem Helden durch die Venen fließt, zum Bild des eisigen Schreckens, der den Mederprinzen erfasst hat. Die Musik der Arie beginnt nicht zufällig wie das Winter-Konzert aus den Vier Jahreszeiten. Als Giacomo Zaghini diese Arie sang, war er bereits Hofsänger bei Wilhelmine von Bayreuth. Dort kann man im Neuen Schloss sein eindrucksvolles Portrait bewundern. Durch ihn kam „Gelido in ogni vena“ sicher auch an den Bayreuther Musenhof. Für den alternden Vivaldi in Venedig war diese Arie eine treffende Beschreibung seines unsicheren Schicksals:

Vor eisigem Schrecken
   Gefriert mir das Blut,
   Die Seele leidet,
   Weil keine Hoffnung mehr ist.
Doch stets beständig
   Will ich im Herzen bleiben,
   Um dem grausamen Schicksal
   Durch Tugend zu trotzen.

Abschied von der Pietà

Die tiefe Melancholie, die „Gelido in ogni vena“ verbreitet, liegt auch über den letzten Violinkonzerten Vivaldis. Weil er im Juni 1741 in Wien dem böhmischen Grafen Collalto für zwölf ungarische Dukaten einige nicht näher bezeichnete Musikstücke verkaufte, die sich aber später in der Musiksammlung des Grafen als 15 Violinkonzerte wiederfinden lassen, weiß man, welche „letzten Violinkonzerte“ Vivaldi mit auf die Reise nach Österreich nahm. Das schönste von ihnen ist das h-Moll-Konzert, das Peter Ryom in seinem Vivaldi-Werkverzeichnis mit der Nummer 390 versah. Eine langsame Einleitung eröffnet in düsteren h-Moll-Akkorden den ersten Satz. Fast mürrisch beginnt das Allegro, in dem die Violine in virtuosen Triolen frei durch die Tonarten driftet, wie so oft beim späten Vivaldi. Über den eisig erstarrten Streichern schwingt sich der Solist in die Höhe zu immer neuen Kantilenen von tiefer Wehmut. Die Molltonarten werden kaum einmal verlassen in diesem langen, mehr als sechsminütigen Allegro non molto. Der langsame Mittelsatz wird vom Pizzicato der Streicher umrahmt und getragen. Darüber spielt die Solovioline eine tief melancholische Kantilene mit etlichen Septvorhalten. Das Finale beginnt als mürrischer Tanz über stürmischen Bässen und fällt dann in skurriles Piano zurück. Ganze 14 Minuten dauert dieses außergewöhnliche Konzert - ein klingendes Testament des Prete Rosso, wie ein wehmütiger Abschiedsgruß an Venedig.

Ob dieses h-Moll-Konzert schon im Advent 1739 in der Pietà erklungen ist, wissen wir nicht. Seit 1738 war Vivaldi nicht mehr Maestro de‘ Concerti und damit nicht mehr für die wöchentlichen Konzerte in der Kapelle des Findlingshauses zuständig. Seine Musik ist dort trotzdem noch gespielt worden. Als sich im März 1740 Kurprinz Friedrich Christian von Sachsen, der Enkel Augusts des Starken, in Venedig einfand, veranstaltete die Pietà ihm zu Ehren ein Festkonzert am Frühlingsanfang. Vier neue Werke von Vivaldi waren zu hören, die in einer Prachthandschrift nach Dresden geschickt wurden. An der Elbe wusste man seine Kunst noch zu schätzen. Als Ende April bekannt wurde, dass er die Lagunenstadt dauerhaft verlassen würde, kaufte ihm die Pietà noch schnell mehr als 20 Konzerte ab. Das h-Moll-Konzert RV 390 muss darunter gewesen sein, bevor es im Folgejahr auch seinen Weg über Wien bis nach Mähren fand.

Zum Hören:

Violinkonzert h-Moll, RV 390, Fabio Biondi, Europa Galante

https://www.youtube.com/watch?v=A7mb_ayKIc0

Vivaldi: Gelido in ogni vena

https://www.youtube.com/watch?v=2NIkRXc3xjI

Simone Kermes; Venice Baroque Orchestra (Schwetzunger Festspiele 2010)