Die Muttergottes mit dem Jesuskind und dem Hl. Dominikus, Altargemälde von Torellis Bruder Felice (Santa Maria del Suffrago. Fano).

Heiligabend in Bologna 1708

Es war das letzte Weihnachtsfest, das der große Geiger Giuseppe Torelli in seiner Wahlheimat Bologna feiern sollte: 1708 leitete er in der Basilika San Petronio seine Pastorale per la notte di Natale.

Torellis letzte Weihnachten

von Karl Böhmer

In der Heiligen Nacht des Jahres 1708 erleuchteten Hunderte von Kerzen den riesigen Innenraum der Basilika San Petronio. Das berühmte Orchester der Basilika spielte an der Krippe die Pastorale per la Notte di Natale von Torelli – vielleicht nicht zum ersten Mal, aber zum letzten Mal unter der Leitung des Komponisten. Am 8. Februar 1709 ist er in Bologna verstorben. Die Drucklegung seiner Concerti Opus 8 konnte er nicht mehr selbst abschließen. Sein jüngerer Bruder Felice, ein erfolgreicher Maler und Gründer der Accademia Clementina in Bologna, betreute den Druck bis zur posthumen Veröffentlichung. Als Nr. 6 enthält dieses Opus Torellis „Weihnachtskonzert“ – heute sein berühmtestes Werk. 

Wie das „Weihnachtskonzert“ seines römischen Konkurrenten Corelli oder die betreffenden Werke seines Schülers Manfredini imitiert auch Torellis Pastorale die Klänge der „Zampognari“. Die Hirtenmusiker aus den Bergregionen Italiens kamen alljährlich im Advent in die Städte, um auf Dudelsack und Schalmei, Zampogna und Piffero, vor Madonnen-Bildnissen zu musizieren. Für die komponierenden Geiger des italienischen Barock wurden ihre weihnachtlichen Hirtenweisen zur Inspiration, denn so wie die Hirten von Bethlehem mit ihren Dudelsäcken an der Krippe musiziert hatten, wollten sie nun mit ihren edlen Violinklängen dem Jesuskind aufwarten. Also übten sich auch Torelli und seine Schüler in Bologna in der Kunst, den Bordun-Klang des Dudelsacks und die simplen Weihnachtsweisen der Schalmeien im wiegenden Rhythmus zu imitieren. Torellis Concerto op. 6 Nr. 6 unterscheidet sich allerdings in drei Punkten von der Weihnachtsmusik seiner Kollegen: Sein Concerto enthält in nur fünf Minuten gleich zwei Pastoralen, beide stehen in Moll, nicht in Dur, und beide sollen im schnellen Tempo gespielt werden, nicht im weich schwingenden Andante eines Corelli. Ob sich dahinter andere volksmusikalische Quellen verbergen als in den römischen Pastoralen der Corelli-Schule, wüssten sicher italienische Folkloreforscher zu ergründen.

Ein Veroneser in Bologna

Vielleicht brachte Torelli die Hirtenmusik dieser Pastorale auch aus seiner norditalienischen Heimat mit: Er kam 1659 in Verona zur Welt. Als sechstes von neun Kindern eines wohlhabenden Zollbeamten und seiner Frau ist er im Schatten der Arena von Verona glücklich und offenbar musisch aufgewachsen. Noch mit 25 Jahren wirkte er als Geiger in der Dommusik von Verona mit. Erst ein paar Monate später machte er sich nach Bologna auf, wo er im Juni 1684 in die berühmte Accademia filarmonica aufgenommen wurde – in die gleiche Akademie, die 86 Jahre später den jungen Mozart zu ihrem erlauchten Kreis zulassen sollte. Außer der Accademia war es die gewaltige Basilika San Petronio mit ihrem berühmten Orchester, die den Veroneser in die päpstliche Stadt am Fuß des Apennins lockte.

„La dotta, la rossa, la grassa“, die drei Beinamen Bolognas, lernte Torelli während seiner zwei Jahrzehnte in der Stadt ausgiebig kennen: „Die Gelehrte“ wegen der ältesten Universität Europas, „die Rote“ wegen des roten Backsteins der Häuser, „die Fette“ wegen des reichen Essens. Von 1684 bis 1709 verbrachte er die zweite Hälfte seines nur 50 Jahre währenden Lebens in der Metropole der Romagna, ausgenommen die fünf Jahre zwischen 1696 und 1701, in denen es ihn über die Alpen zog. Als Geiger und Bratschist an San Petronio wie auch als Komponist von Streicherwerken erwarb er sich einen so exzellenten Ruf, dass ihn die größten Musikkenner der Poebene wie die Herzöge von Modena und Parma zu sich an den Hof bestellten. Nur widerwillig gewährten ihm seine Vorgesetzten in Bologna lange Urlaube.

Weihnachten in Ansbach 

Kurz nach Weihnachten 1695 kam es in Bologna zur großen musikalischen Krise: Das damals berühmteste Kirchenorchester Italiens wurde aus finanziellen Gründen aufgelöst. Glücklicherweise befand sich gerade der 18-jährige Markgraf Georg Friedrich von Ansbach auf Kavalierstour. Er engagierte Torelli und dessen Kastratenfreund Francesco Antonio Pistocchi für den Ansbacher Hof. Schon an Weihnachten 1696 sorgten die beiden Italiener in Franken für eine neue Blütezeit der Musik. Ihr Ruf war so exzellent, dass sie im Mai 1697 der Kurfürstin Sophie Charlotte in Berlin einen Besuch abstatteten. Torelli widmete ihr 1698 seine Concerti musicali Opus 6. 

Weihnachten in Wien

Nach drei Weihnachtsfesten in Franken brachen Pistocchi und Torelli im Herbst 1699 nach Wien auf. Dort erlebten sie die letzten Wochen des alten Jahres und die ersten Monate des Jahres 1700 mitten im Heer der italienischen Musiker, die Kaiser Leopold I. um sich scharte. Der Habsburger, der selbst komponierte, war der größte Musikmäzen seiner Zeit. Auch der frisch vermählte Thronfolger Joseph und sein jüngerer Bruder Karl waren der Musik geradezu verfallen. Den beiden Bolognesern aus Ansbach gelang es, im großen Wien zu reüssieren: Pistocchi mit einer Oper, Torelli mit einem Oratorium. Dieses heute leider verlorene Stück war das einzige große Vokalwerk des Geigers. Torelli widmete seine ganze Wiener Weihnachtszeit dieser Komposition. Im Februar 1700 war die Arbeit abgeschlossen, so dass er seinem Lehrer Perti nach Bologna berichten konnte: „Ich habe ein Oratorium gemacht, das während der Fastenzeit in der Kapelle des Kaisers gesungen werden wird, und Gotte gebe, dass es Erfolg haben wird. Ich für meinen Teil habe getan, was ich konnte.“

So schön wie der Frühling

Sein Freund Pistocchi sang in der Uraufführung den Altpart und geriet über die Musik ins Schwärmen: „Der geliebte Torelli hat ein so schönes Oratorium gemacht, dass es würdig ist, nicht alleine vom Kaiser gehört zu werden, sondern von der ganzen Welt. Und ich versichere euch, dass es allen durchweg gefallen wird, weil es so schön ist wie der Frühling. Es ist auf virtuose Weise geschrieben und dabei so bescheiden und devot, dass ich mich nicht erinnern kann, jemals etwas mit größerem Vergnügen gesungen zu haben.“ So berichtete Pistocchi am 27. März 1700 aus Wien nach Bologna. Anfang Mai waren die beiden Musiker schon auf dem Rückweg nach Ansbach, um dort ihren Abschied nach Italien einzureichen. Torelli hatte vom Kaiser ein Geschenk von 1000 Talern erhalten.

Wer von Kaiser Leopold I. so reich entlohnt wurde, hätte es auch heute verdient, mehr gehört zu werden. Zwischen den großen Antipoden Corelli und Vivaldi hat der Bologneser aber selbst in der Alte-Musik-Bewegung unserer Tage nie so recht seinen Platz gefunden.  Sein „Weihnachtskonzert“ und seine Sonaten für Trompete und Streicher sind fast die einzigen Stücke, die von ihm überhaupt noch aufgeführt werden. 

Zum Hören:

Giuseppe Torelli: Weihnachtskonzert (Concerto a quattro in forma di una Pastorale per il SS. Natale), op. 8 Nr. 6 (Bologna 1709), Tschechisches Barockorchester mit der Konzertmeisterin Iva Kramperová im Palais Waldstein in Prag beim Weihnachtskonzert des Tschechischen Senats, 15.12.2010

https://www.youtube.com/watch?v=YslhyUj36c8

Giuseppe Torelli: Sinfonie con Tromba (Gesamtaufnahme) mit Thomas Hammes und den European Chamber Soloists unter Nicolas Matt

https://www.youtube.com/watch?v=A7VfTM8l8RE