Telemann in Leipzig, 28.11.1734
Am ersten Advent 1734 dirigierte Bach in Leipzig die Kantate „Machet die Tore weit“ von Telemann.
Früher Adventsanfang
Anno 1734 fiel der erste Advent in den späten November. Für den Leipziger Musikdirektor Johann Sebastian Bach hatte dies einen entscheidenden Vorteil: Das „Tempus clausum“, die stumme Zeit des Advent ohne figurierte Kirchenmusik, war besonders lang. Der Thomaskantor, seine Sänger und Instrumentalisten hatten besonders viel Zeit, das Weihnachtsfest vorzubereiten – Zeit, die Bach anno 1734 weidlich nutzte, um die Uraufführung seines Weihnachtsoratoriums vorzubereiten. Deshalb dirigierte er am ersten Adventssonntag in der Thomaskirche keine eigene Kantate, sondern eine seines Freundes Georg Philipp Telemann: „Machet die Tore weit“. Dazu fertigte er eine Reinschrift-Kopie der Partitur an, die heute noch in Berlin erhalten ist. Anhand der Kopistenhände im Aufführungsmaterial kann man das Datum der Leipziger Aufführung genau bestimmen: 28. November 1734.
Telemannsche Kirchenstücke in Leipzig
Die Gemeinde der Thomaskirche dürfte über das Telemannsche Kirchenstück entzückt gewesen sein. Seit der quirlige Magdeburger als aufmüpfiger Student der Leipziger Universität und Musikdirektor der Neukirche das Musikleben um 1700 aufgemischt hatte, waren ihm die Kenner der Lindenstadt treu ergeben. Wie gerne hätte man ihn 1722 als Thomaskantor nach Leipzig gezogen, doch Hamburg ließ ihn nicht gehen. Erst nachdem Telemann aus dem Rennen war, reichte Bach seine Bewerbung ein. Gegen den berühmtesten Komponisten Deutschlands hätte er in Leipzig keine Chance gehabt, und zwar nicht wegen Telemanns Orchestersuiten und Triosonaten, sondern wegen seiner Kirchenkantaten. Der Magdeburger galt als der größte Kirchenkomponist Deutschlands, nachdem er in seiner Frankfurter Zeit gleich mit mehreren Kantatenjahrgängen Maßstäbe gesetzt hatte: mit dem „Französischen Jahrgang“ von 1713/14, den derzeit Felix Koch mit seinen Ensembles einspielt; mit den beiden „Concertenjahrgängen“ und dem „Sizilianischen Jahrgang“.
Bach kannte alle diese Stücke und hatte sie für seine Aufführungspraxis in Leipzig bitter nötig. Während er selbst Sonntag für Sonntag, zwischen den beiden Hauptkirchen wechselnd, seine eigenen Kantaten dirigierte, musste in der jeweils anderen Hauptkirche ein älterer, erfahrener Schüler als „Präfekt“ die Aufführung einer anderen Kantate leiten. Da seine eigenen Kirchenstücke dafür zu „intrikat“ waren, wie Bach selbst befand, erklangen bei diesen Gelegenheiten oft genug Telemannsche Kirchenstücke – sehr zur Freude der Leipziger.
Dieses ständige Nebeneinander von Bach und Telemann regte zu Vergleichen an, die nicht zu Bachs Gunsten ausfielen: „Bachische Kirchen-Stücke sind allemahl künstlicher und mühsamer; keineswegs aber von solchem Nachdrucke, Überzeugung, und von solchem vernünfftigen Nachdencken, als die Telemannschen Wercke.“ Davon war nicht nur Bachs schärfster Kritiker Johann Adolph Scheibe überzeugt. Im Jahre 1738, als Scheibe diesen Satz niederschrieb, hielt man die Kantaten des Thomaskantors insgesamt für veraltet. Mit Dissonanzen überhäuft, mit Verzierungen übersät, mit Kontrapunkt aufgeladen, galten sie den Musikhörern des aufgeklärten Zeitalters als Musik einer überwundenen Zeit. Das „Rührende“ und „Annehmliche“ wurden zum Ideal des galanten Zeitalters erhoben, auch in der Kirchenmusik – ein Anspruch, den Telemanns Kantaten erfüllten.
Die Freunde Bach und Telemann
Nicht dass Bach sich dem neuen Geschmack verweigert hätte. Das Weihnachtsoratorium ist das schönste Beispiel dafür, wie er sich dem in Dresden regierenden galanten Stil in seiner eigenen Musik anpassen konnte. Andererseits dirigierte er in den beiden Leipziger Hauptkirchen immer wieder herausragende Werke seines Freundes Telemann. „In seinen jungen Jahren war er oft mit Telemann zusammen,“ so bezeugte es sein Sohn Carl Philipp Emanuel, den Telemann im März 1714 zu Weimar aus der Taufe gehoben hatte. Gerade in jenen Jahren, als Bach in Weimar als Hoforganist und Konzertmeister wirkte, während Telemann zwischen Frankfurt am Main und Eisenach pendelte, ergaben sich Gelegenheiten zum Austausch, besonders über Kantaten. Für seine allererste Adventskantate „Nun komm der Heiden Heiland“ BWV 61 borgte sich Bach bei Freund Telemann einen druckfrischen Kantatentext aus. Die Anregungen sind auf beiden Seiten zu spüren – eine Art „Kantatenwettbewerb“ in ihren frühen Jahren 1714/15.
Als Bach 1723 Thomaskantor wurde, war dieses „Rennen“ längst entschieden. Während er selbst fünfeinhalb Jahre als Hofkapellmeister in Köthen gewirkt hatte, war es Telemann gelungen, die lutherische Kantate um ständig neues Repertoire zu bereichern. Bei diesem Fundus setzte auch Bach an, als er im Sommer 1723 an seinen ersten Leipziger Kantatenjahrgang ging. Vieles von dem, was wir heute als Neuerung oder genialen Einfall ihm zuschreiben, konnte er längst bei Telemann vorfinden. Es ist offenkundig, dass Bach seinen Magdeburger Freund auch im Kirchenstil bewunderte – bei aller Gegensätzlichkeit. Bachs schöne Abschrift der Adventskantate „Machet die Tore weit“ belegt dies in aller Deutlichkeit.
Machet die Tore weit
Was also bekamen die Leipziger am ersten Adventssonntag 1734 unter Bachs Leitung in der Thomaskirche zu hören? Zunächst einen überaus eingängigen Eingangschor über jenen Dialog aus dem 24. Psalm, den auch Händel später auf Englisch im Messiah vertont hat („Lift up your heads! … Who is this King of Glory?“):
Machet die Tore weit,
und die Türen in der Welt hoch, hoch, hoch,
daß der König der Ehren einziehe!
– Wer ist derselbe König der Ehren?
Es ist der Herr, stark und mächtig im Streite.
– Wer ist derselbe König der Ehren?
Es ist der Herr Zebaoth,
er ist der König der Ehren!
Anders als Händels prachtvolles Dur wählte Telemann ein stürmisches c-Moll, allerdings im tänzerischen Rhythmus eines Menuetts. So dürfen die Soprane des Chors eine eingängige Tanzmelodie singen, die sofort im Ohr haften bleibt. Drei der Solisten stellen danach die Frage: „Wer ist derselbe König der Ehren?“ Der Chor antwortet im kraftvollen Allegro über stürmischem Streicher-Tremolo: „Es ist der Herr, stark und mächtig im Streite.“ Danach kehrt zunächst das tänzerische Anfangsthema wieder, bevor die drei Solisten ihre Frage wiederholen. Nun erreicht der Satz im imitatorischen Satz des Chores seinen Höhe- und Schlusspunkt: „Der Herr Zebaoth. Er ist der König der Ehren.“ Typisch für Telemann ist das Addieren kleiner, übersichtlicher Einheiten. Die gewaltigen Dimensionen Bachscher Eingangschöre mit ihrer alles integrierenden Konzertform hat er nie angestrebt oder erreicht.
Ebenso schön wie der Eingangschor ist die Sopranarie „Jesu, komm in meine Seele, lass mich deine Wohnung sein“, die sogar als Einzelnummer erstaunlich populär wurde – eine rare Erscheinung in Telemanns Kantaten. Minutiös hat Bach in seiner Abschrift für den absteigenden Bass das Pizzicato vermerkt. Die feierlichen Geigenakkorde, die sich wie ein Klangteppich darüber legen, die schlichte Gesangsstimme und die Einwürfe der Oboen verbinden sich zu jenem „rührenden“ Ausdruck, wie ihn die Zeitgenossen an Telemanns Kirchenstücken so schätzten.
Mit dieser Kirchenmusik von Telemann im Ohr gingen die Leipziger in einen langen Advent, an dessen Ende sie das „Jauchzet, frohlocket“ des Thomaskantors erwartete.
Zum Hören:
Telemann: Machet die Tore weit (Eingangschor) – Domchor Fulda, L’arpa festante, Domkapellmeister Franz-Peter Huber
https://www.youtube.com/watch?v=kW6kVCRY6UA
Telemann: Jesu, komm in meine Seele – Cristel De Meulder, Baroque Orchestra OLV Godfried Van de Vyvere.