Karmontag 1778 in Paris
Auf dem Weg zum Osterfest erzählt Karl Böhmer Geschichten über Musikerinnen und Musiker in der Karwoche mit Hörbeispielen. Zum Montag der Karwoche: Mozart im Pariser Concert spirituel anno 1778.
Mannheimer Karwoche in Paris, 1778
Als Wolfgang Amadeus Mozart am Montag der Karwoche 1778 das Concert Spirituel in den Pariser Tuilerien besuchte, erwartete ihn ein Konzertprogramm, das ganz im Zeichen seiner Freunde aus Mannheim stand:
- eine Sinfonie des Mannheimer Kapelldirektors Christian Cannabich
- die Arie „Non sò d’onde viene“ von Johann Christian Bach, gesungen vom ersten Tenor der Mannheimer Oper, Anton Raaff
- ein Oboenkonzert, gespielt vom Mannheimer Solooboisten Friedrich Ramm
- eine Arie von Giovanni Paisiello, gesungen von der 22-jährigen Würzburger Sopranistin Sabina Hitzelberger
- eine Sinfonia concertante für zwei Violinen und Orchester, gespielt von den Pariser Virtuosen Piétain und Guérin
- der große Psalm In te Domine speravi von Antonio Sacchini für Soli, Chor und Orchester
- ein Hornkonzert von Wenzel Stich alias Punto
- eine weitere Tenorarie des Londoner Bach mit obligatem Fagott, ausgeführt von Raaff und dem Mannheimer Solofagottisten Ritter.
Es war der prachtvolle Auftakt zu zwei Festwochen der Mannheimer Musik, die das Osterfest 1778 in Paris umrahmten. Anton Raaff, der Fritz Wunderlich des 18. Jahrhunderts, und die Solobläser der Mannheimer Hofkapelle gaben in fast jedem Konzert den Ton an – und mit ihnen Mozart. Unsere Hörtipps zum heutigen Kalenderblatt versuchen etwas vom Glanz jenes Abends zu vermitteln: eine besonders prachtvolle Cannabich-Sinfonie, die besagte Bacharie „Non sò d’onde viene“ und das Oboenkonzert von Mozart. Gäbe es von dem herrlichen Psalm des Florentiners Sacchini ebenfalls eine Einspielung, bekäme man einen besseren Eindruck vom weltlich-geistlichen Charakter jener Pariser Konzertreihe, die anno 1778 nur noch dem Namen nach geistlich war. Selbst in der Karwoche wurde das Concert spirituel von italienischen Opernarien und virtuosen Solokonzerten dominiert. Immerhin aber sorgte an jedem Abend ein geistliches Werk für die allfällige Verneigung vor der Heiligen Woche: der besagte Sacchini-Psalm, ein paar lateinische Motetten, das französische Oratorium La sortie d’Egypte (Die Flucht aus Ägypten) von Rigel und das unverzichtbare Stabat Mater von Pergolesi.
Mozarts verschollene Sinfonia concertante
Ein Werk fehlte auf dem Programm vom 13. April 1778: Mozarts Sinfonia concertante für Flöte, Oboe, Horn, Fagott und Orchester. Der Impresario der Konzertreihe Le Gros hatte sie beim jungen Mozart für die Mannheimer Solobläser in Auftrag gegeben und für Palmsonntag, 12. April, die Uraufführung angesetzt. Doch vor dem Konzert war plötzlich keine Rede mehr von Mozarts Concertante, wie Mozart seinem Vater drei Wochen später in einem langen Brief berichtete:
„ich habe die Sinfonie machen müssen, in gröster Eÿl, habe mich sehr beflissen, und die 4 Concertanten waren und sind noch ganz darein verliebt. Le gros hat sie 4 täg zum abschreiben. ich finde sie aber noch immer an nemmlichen Plaz liegen. Endlich den vorlezten tag finde ich sie nicht – suche aber recht unter den Musikalien – und finde sie versteckt. thue nichts dargleichen. frage den Le gros. apropós. haben sie die Sinf: Concertant schon zum schreiben geben? – nein – ich habs vergessen. weil ich ihm natürlicher weise nicht befehlen kan daß er sie abschreiben und machen lassen soll, so sagte ich nichts. gieng die 2 täg wo sie hätte executirt werden sollen ins Concert. da kamm Ramm und Punto im grösten feüer zu mir, und fragten mich, warum den meine Sinfoni Concert: nicht gemacht wird? – das weis ich nicht. das ist das erste was ich höre. ich weis von nichts. der Ramm ist fuchswild worden, und hat in den Musique Zimmer französisch über den Le gros geschmält, daß das von ihm nicht schön seÿe etce: was mich beÿ der gantzen sache am meisten verdriest, ist, daß der Le gros mir gar kein wort davon gesagt hat, nur ich hab nichts darvon wissen därfen – wenn er doch eine excuse gemacht hätte, daß ihm die zeit zu kurz wäre, oder dergleichen, aber gar nichts – ich glaub aber, da ist der Cambini ein welscher Maestro hier, ursache, dann den habe ich, unschuldigerweis die augen in der ersten zusamenkunft beÿm le gros, ausgelöscht.“
Tatsächlich spielten die Mannheimer Bläservirtuosen am Palmsonntag eine Sinfonia concertante von Cambini in der gleichen Besetzung wie die Mozartsche. Auch die geplante Wiederholung der Letzteren am Montag der Karwoche fiel aus. Die Frage, ob sich dieses verschollene Pariser Mozartwerk oder Teile davon in der Sinfonia concertante für vier Bläser und Orchester KV 297b erhalten haben, beschäftigt die Mozartforschung seit Jahrzehnten und ist noch immer ein ungelöstes Rätsel.
Das gekürzte Miserere
Seine abgesetzte Sinfonia concertante sollte für Mozart nicht die einzige Enttäuschung jener Karwoche in Paris bleiben. Le Gros hatte ihm noch einen weiteren Auftrag erteilt: Er sollte für die Karwoche vier neue Chöre zu einem alten Miserere des Mannheimer Hofkapellmeisters Ignaz Holzbauer schreiben, doch wieder war die Konkurrenz der einheimischen Pariser Komponisten stärker. Rigel, der Spezialist für französische Oratorien, brachte am Palmsonntag sein neuestes Werk zur Urafführung: La Sortie d’Egypte über den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Die dramatischen Chöre dieses 20-Minuten-Oratoriums sollten keine Konkurrenz vom jungen Mozart bekommen, also wurden am Karfreitag von den vier neuen Chören des Miserere nur zwei aufgeführt. Dass seine „Chör=arbeit so zu sagen umsonst war“, berichtete Mozart seinem Vater im langen Brief vom 1. Mai:
„das miserere von holzbauer ist ohnedieß lang, und hat nicht gefallen, mithin hat man anstatt 4 nur 2 Chör von mir gemacht. und folglich das beste ausgelassen. das hat aber nicht viell zu sagen gehabt, den vielle haben nicht gewust, daß etwas von mir dabeÿ ist, und vielle haben mich auch gar nicht gekannt. übrigens war aber beÿ der Prob ein grosser beÿfall; und ich selbst | denn auf das Pariser=lob rechne ich nicht | bin sehr mit meinen Chören zufrieden.“
Da die Pariser Zeitungen ausgerechnet die Konzertprogramme vom Gründonnerstag und Karfreitag 1778 nicht abdruckten, kann man diese gekürzte Aufführung des Holzbauer-Miserere nicht genau belegen. Sie fand wahrscheinlich am Karfreitag statt. Von Mozarts vier Chören zu diesem Werk fehlt heute jede Spur.
Mozarts Oboenkonzert
Lichtblicke gab es dennoch: Friedrich Ramm, der große Mannheimer Oboist, konnte wieder einmal Mozarts Oboenkonzert spielen, in das er sich in Mannheim verliebt hatte. Sechsmal trat er in der Karwoche und der Osteroktav im Concert spirituel mit Oboenkonzerten auf, deren Komponisten nicht genannt werden. Schon als Revanche für die gestrichene Mozart-Concertante wird er dabei mit Genuss das C-Dur-Konzert KV 314 gespielt haben.
Mozartarie für einen Kastraten
Am Osterdienstag taucht unter den Programmpunkten plötzlich eine italienische Arie von Mozart auf, gesungen von dem Soprankastraten Gaspare Savoj. Seit 1756 stand dieser Sänger auf der Bühne, seit 1765 hatte er durch seine außergewöhnlich schöne Stimme als secondo uomo der Londoner Oper eine stetige Karriere gemacht, die bis in den 1790er Jahre hinein reichte. Anno 1778 in Paris glänzte er unter anderem in einer Mozartarie. Welche es gewesen sein könnte, hat der Musikwissenschaftler Paul Corneilson ermittelt: Aer tranquillo, die bekannte Bravourarie des Aminta aus Il re pastore. Mozart hatte nämlich just von dieser Arie das Aufführungsmaterial bei sich, als er nach Paris reiste.
Der große Raaff singt Bach
Noch ein zweiter Star der italienischen Oper zog die Pariser in der Karwoche 1778 in seinen Bann: der Tenor Anton Raaff. Der Rheinländer aus der Nähe von Bonn war in den 1750er Jahren zum größten Operntenor in Italien, Spanien und Portugal avanciert und hatte sich 1770 auf eine Altersstelle als erster Tenor der Mannheimer Hofoper zurückgezogen. Dort hatte ihn Mozart im November 1777 zum ersten Mal gehört. Mit seinen mittlerweile 63 Jahren gab er ein spätes Debüt in Paris, und zwar just in jenem Konzert am Montag der Karwoche 1778, wo ihm Mozart noch aufmerksamer zuhörte als in Mannheim:
„Nun muß ich ihnen doch auch von unsern Raaff etwas schreiben. sie werden sich ohne zweifel erinnern, daß ich von Mannheim aus nicht gar zu gut von ihm geschrieben habe. daß ich mit seinem singen nicht zufrieden war … hier endlich als er in Concert Spirituell debutierte, sang er die scene von bach, non sò d’onde viene, welchs ohnedem meine favorit sache ist, und da hab ich ihn das erstemahl singen gehört – er hat mir gefahlen – das ist, in dieser art zu singen – aber die art an sich selbst – die Bernachische schule – die ist nicht nach meinen gusto. er macht mir zu viell ins Cantabile. ich lasse zu, daß es, als er jünger, und in seinen flor war, seinen Effect wird gemacht haben, das er wird surpreniert haben – mir gefällts auch, aber mir ists zu viell, mir kömmts oft lächerlich vor. was mir an ihm gefällt, ist wenn er so kleine sachen singt, so gewisse andantino – wie er auch so gewisse arien hat, da hat er so seine eigene art ... seine stime ist schön und sehr angenehm.“
Für sein Pariser Debüt wählte Raaff eine Arie des „Londoner Bach“, die er zum ersten Mal 1762 in Neapel gesungen hatte. Sie war Mozarts Lieblingsarie seit seinen Kindertagen und ein Musterbeispiel der großen italienischen Aria cantabile. Dieses berühmte Non sò d'onde viene zeigt, dass zur Karwoche nicht nur die Passionsmusik von Johann Sebastian Bach gehört, sondern auch die süße italienische Musik seines jüngsten Sohnes. (Karl Böhmer)
Hörbeispiele:
https://www.youtube.com/watch?v=hUHUdHY82kY
Christian Cannabich: Sinfonie C-Dur für Doppelorchester (1. Satz); Berliner Philharmoniker, Leitung: Reinhard Goebel
https://www.youtube.com/watch?v=CjqLftO9Euo
Johann Christian Bach: Tenorarie „Non sò d’onde viene“; Ben Johnson, Tenor; The Mozartists, Leitung: Ian Page
https://www.youtube.com/watch?v=j3xbS4rjzFI
Wolfgang Amadeus Mozart: Oboenkonzert C-Dur, KV 314; Philippe Tondre, Oboe (Solooboist des Philadelphia Orchestra), Budapest Festival Orchestra