Gründonnerstag in Dresden
Ein klingender Ausflug ins Dresden des Jahres 1722 mit wundervoller Musik des Böhmen Jan Dismas Zelenka. Sein Te Deum erklingt im August beim Festival RheinVokal.
Katholische Hofkirchen in Dresden
2021 hat das katholische Bistum Dresden-Meißen seinen 100. Geburtstag gefeiert, natürlich in der barocken Kathedrale der Landeshauptstadt, die sich seit 1751 majestätisch am Elbufer erhebt. Schon 200 Jahre vor der Gründung des Bistums zeigte die Errichtung dieser prachtvollen Hofkirche den frommen Lutheranern Sachsens an, dass ein neuer, katholischer Geist bei Hofe Einzug gehalten hatte. Es war eine Habsburgerin, die ihn an die Elbe mitbrachte: Erzherzogin Maria Josepha von Österreich. Die Tochter des verstorbenen Kaisers Joseph I. und Nichte seines Bruders Karls VI. heiratete 1719 den Kurprinzen Friedrich August – Anlass für das prachtvollste Hoffest, das Dresden jemals erlebte. Seitdem hatte die katholische Liturgie im Herzen des lutherischen Landes wieder ihren festen Platz, vorerst aber noch versteckt im alten Opernhaus, das man provisorisch zu einer katholischen Hofkirche umbaute. Dort brachte der böhmische Barockmeister Jan Dismas Zelenka in der Karwoche 1722 eines seiner großartigsten Kirchenstücke zur Aufführung: die erste Lamentation zum Gründonnerstag. Beim Festival RheinVokal 2017 wurde sie vom tschechischen Bariton Tomas Kral in der Herrnhuter Brüdergemeine zu Neuwied auf bewegende Weise gesungen und auf Video aufgezeichnet - Anlass zum heutigen Kalenderblatt.
Matutin am Nachmittag, Gründonnerstag am Mittwoch
Die Tenebrae, die Finstermetten der Karwoche, sind so alt wie die Passionsliturgie der Kirche: An den drei Tagen des Triduums, Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag, werden die Stundengebete der Frühe, also Matutin und Laudes, zu einem langen Gottesdienst zusammengezogen. Ihre neun Lektionen werden von neuen Responsorien durchsetzt und von einem Miserere abgeschlossen. Bei den ersten drei Lesungen handelt es sich um Klagelieder des Propheten Jeremia aus dem Alten Testament. So weit, so gut, doch im Barock war von diesen endlosen Gesängen im Lamentationston in finsteren, kalten Kirchen nur noch ein Bruchteil übrig geblieben. Denn je aufwendiger die Vertonungen der Lamentationen und Responsorien wurden, desto bequemer sollten die Zuhörer den Werken lauschen dürfen. Also verlegte man die Matutin auf den Nachmittag des Vortages und sang von den drei Lamentationen meist nur noch die ersten beiden. Genauso geschah es auch in der Karwoche 1722 zu Dresden. Zelenka vertonte zwar die ersten beiden Lamentationen zum Gründonnerstag, führte sie aber am Nachmittag des Karmittwochs auf.
Der Kurprinz langweilt sich
Unglaublich, aber wahr: Dem Kurprinzen Friedrich August wurde bei dieser Aufführung die Zeit zu lang. Der lutherisch getaufte und erst kurz vor seiner Hochzeit zum Katholizismus konvertierte Sohn Augusts des Starkes konnte mit den endlosen lateinischen Gesängen der Katholiken nur wenig anfangen - ganz im Gegensatz zu seiner Gemahlin. Maria Josepha war derlei Liturgien vom Wiener Kaiserhof gewohnt und saß sie mit der ganzen Würde der Pietas austriaca aus. Am 1. April 1722 kam es deshalb in Dresden zu einer kuriosen Situation, wie uns ein Jesuit im Diarium Missionis überliefert hat:
Am Nachmittag gegen vier Uhr wurde die Matutin gesungen. Die Lamentationen, die Responsorien und das abschließende Miserere waren von Zelenka komponiert. Sowohl der erlauchte Kurprinz als auch die Kurprinzessin waren anwesend. Weil aber die Komposition ziemlich lang war, ließ seine Durchlaucht Zelenka bitten, den Gesang abzukürzen und das Miserere wegzulassen. So geschah es auch an den folgenden beiden Tagen.
Hätte der Kurprinz geahnt, welch großartiges Miserere ihm auf diese Weise entging, er hätte die zusätzliche Viertelstunde vielleicht auch noch ertragen. Andererseits war Friedrich August zwar ein Melomane, doch schlug sein Herz eher für die leichteren Töne des gerade anbrechenden galanten Zeitalters. Der Böhme Zelenka dagegen häufte in seinen Lamentationen und im Miserere die Vorhalts-DIssonanzen in so barocker Fülle an, wie man es zur gleichen Zeit nur bei Bach hören konnte. Schicht um Schicht setzte er düstere Mollklangflächen der Streicher aufeinander, während die Singstimmen im Klageton düster hineinrufen - als Mahner in der Wüste und Propheten des Alten Testaments, nicht als zarte Frömmler des Rokoko. Diese Musik sollte im galanten Dresden alsbald nur noch eine Rolle am Rande spielen.
Der Außenseiter Zelenka
Wer jemals eine der sechs Triosonaten von Jan Dismas Zelenka gehört hat, wer in den Sog seiner späten Messen oder seiner Lamentationen geraten ist, den lässt die Musik dieses Sonderlings des Spätbarock nicht mehr los. Seine Vita war so unspektakulär, seine Musik dagegen so sensationell, dass man sich bei ihrer Wiederentdeckung in den 1970er Jahren unweigerlich die Frage stellte: Wie konnte ein solches Genie im großen Dresden so vergessen werden? Dies hing einerseits mit der Ghettosituation der Katholiken in Dresden zusammen, die sich als Böhmen oder Italiener zusammenhorten mussten, umringt von Lutheranern. Es war andererseits eine Folge von Zelenkas Stil. Als Schüler des Wiener Hofkapellmeisters Johann Joseph Fux war er ein gelehrter Doppelkontrapunktist mit unbezwingbarer Neigung zu Fugen und Dissonanzen. Im Dresden der anbrechenden Galanterie gehörte seiner Musik nicht die Zukunft.
Zelenka kam als Organistensohn in dem kleinen Örtchen Louňovice pod Blaníkem (Launiowitz am Blanik) südlich von Prag zur Welt. Wie so viele Böhmen seiner Zeit wurde er auf Streichinstrumenten ausgebildet und studierte später bei den Jesuiten am Prager Clementinum. 1710 wurde er als Spieler des Violone, also quasi als „Kontrabassist“, in die Dresdner Hofkapelle Augusts des Starken verpflichtet, wo er bis zu seinem Tod 1745 blieb. Anfangs vom Kurfürsten gefördert, konnte er später nie eine so glanzvolle Rolle spielen wie andere Musiker, etwa der Hofkapellmeister Heinichen oder der Konzertmeister Pisendel. Zelenka blieb ein Außenseiter – trotz der eindrucksvollen Visitenkarte, die er 1722 mit seinen Lamentationen abgegeben hatte, und trotz seiner Musik zur böhmischen Königskrönung Karls VI. in Prag 1723. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er sich außerhalb von Dresden präsentieren durfte. Umso dankbarer war die Forschung für einen Hinweis auf eine angebliche Studienreise nach Venedig. Lange Zeit nahm man an, Zelenka habe den Kurprinzen 1716 auf dessen Kavalierstour nach Venedig begleitet und dort Antonio Vivaldi kennen gelernt. Wie man heute weiß, kam er nur bis Wien, wo er beim kaiserlichen Oberkapellmeister Fux sein Kontrapunktstudium absolvierte. Auch die italienischen Züge seiner Musik verdankte er mehr den Pragern und Wienern als den Venezianern.
Als August der Starke 1733 starb, schrieb Zelenka zwar das Requiem für ihn - ein so eindrucksvolles Werk, dass man es noch 1792 in Koblenz als Requiem für Kaiser Leopold II. aufführte. Der neue sächsische Kurfürst aber, jener Friedrich August, der sich in Zelenkas Lamentationen 1722 langweilte, hatte nur Ohren für Johann Adolph Hasse, den neuen Hofkapellmeister. Alle Hoffnungen Zelenkas auf die Nachfolge Heinichens waren zunichte. Noch Jahre später flehte er den Kurfürsten um Verbesserung seines mageren Gehalts an. Als er im preußisch besetzten Dresden kurz vor Weihnachten 1745 starb, trauerte nur der Konzertmeister Pisendel um seinen Kollegen. Zusammen mit Telemann versuchte er, Zelenkas wundervolle Responsorien zur Karwoche posthum zu veröffentlichen, doch vergeblich. So blieb es den Musikwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts vorbehalten, die vergessenen Schätze des Jan Dismas Zelenka zu heben, Forschern wie Günter Hausswald, Wolfgang Horn oder Wolfgang Reich.
Lamentatio I
1722 vertonte Zelenka insgesamt sechs Lamentationen zur Karwoche. Für jede von ihnen wählte er eine Solostimme aus – Bass, Alt oder Tenor – und kombinierte sie mit Streichern, ergänzt um wechselnde Bläser. Vratislav Bělský und Wolfgang Reich legten erste Editionen dieses Zyklus' vor, später auch Thomas Kohlhase, woran sich sehr bald die ersten Einspielungen anschlossen. Nach der bahnbrechenden Ersteinspielung von Zelenkas Triosonaten in den 1970er Jahren staunte die Musikwelt über einen weiteren genialen Zyklus des so lange vergessenen böhmischen Komponisten.
Die Klagelieder des Propheten Jeremias waren für das Genie Zelenkas eine ideale Vorlage. Im herben, von Dissonanzen durchfurchten Tonfall seiner Musik kommt der Charakter der Klagelieder wie von selbst zum Ausdruck. Dabei wird jedes Textdetail tonmalerisch und affektreich nachgezeichnet, so dass eine barocke „Klangrede“ von faszinierender Dichte entsteht. Dies gilt insbesondere für die erste Lamentation in c-Moll, die mit Bass und Streichern besetzt ist, verstärkt um Oboen und Fagott. Schon das erschütternde Vorspiel der Instrumente ist eine Übereinanderschichtung von schmerzlichen Vorhalten und Seufzerfiguren. Mitten hinein in dieses Klangbild der Klage singt der Bass sein erschütterndes Incipit Lamentatio Jeremiae Prophetae: „So beginnt das Klagelied des Propheten Jeremias“. Ein Vivace in Es-Dur löst das düstere Moll ab. Es ist ein Melisma über den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets: Aleph. Dem folgen noch weitere Buchstaben: Beth, Ghimel, Daleth und He. Alle Lamentationen werden durch diese hebräischen Buchstaben gegliedert, wobei die Komponisten des Barock sie teils für lange, ausdrucksvolle „Vokalisen“ nutzten, teils für kunstvolle Kontrapunkte. Auch in Zelenkas Lamentatio I bilden die hebräischen Buchstaben gliedernde Intermezzi zwischen den textreichen Klagen des Propheten. Alles Leid und alle Not des Volkes Israel nach der Verschleppung durch die Babylonier ist in diese Klagen eingeflossen:
ALEPH. Wie liegt die Stadt so wüste, die voll Volks war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Heiden; und die eine Königin in den Ländern war, muss nun dienen. BETH. Sie weint des Nachts, dass ihr die Tränen über die Wangen rollen; es ist niemand unter all ihren Freunden, der sie tröstet; all ihre Nächsten sind ihr treulos und zu Feinden worden. GHIMEL. Juda ist gefangen in Elend und schwerem Dienst; sie wohnt unter den Heiden und findet keine Ruhe; alle ihre Verfolger halten sie übel. DALETH. Die Straßen gen Zion liegen wüst; weil niemand auf ein Fest kommt; ihre Tore stehen öde, ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sehen jämmerlich drein, und sie ist betrübt. DALETH. Ihre Widersacher schweben empor, ihren Feinden geht's wohl; denn der HERR hat sie voll Jammers gemacht um ihrer großen Sünden willen, und ihre Kinder sind gefangen vor dem Feinde hin gezogen.
Am Ende erhebt sich die Stimme des Propheten zur großen Mahnung: Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum. „Jerusalem, kehre um zum Herrn, deinem Gott.“ Zelenka hat sie in ein gewaltiges Fugato gekleidet. Beim Festival 2017 ging dieser Schluss, gesungen vom Bariton Tomas Kral, buchstäblich unter die Haut. Sein Live-Mitschnitt mit dem Ensemble Berlin Barqoue aus der Herrnhuter Brüdergemeine in Neuwied ist unser erstes Hörbeispiel.
Lamentatio II und Miserere
Dass Zelenka auch anders schreiben konnte, nämlich beinahe galant, zeigte er mit der zweiten Lamentation zum Gründonnerstag. Sie beginnt in lieblichem F-Dur, im Dreivierteltakt und einer sanft aufsteigenden Melodie. Die Solostimme ist hier dem Alt zugewiesen, anno 1722 ausgeführt von einem italienischen Kastraten. In der hier empfohlenen Aufnahme singt die Mainzer Altistin Larissa Botos, aufgezeichnet im März 2020 bei einem Projekt von Barock Vokal in der Christophoruskirche in Schierstein unter der Leitung von Martin Lutz. Auch am Rheinufer haben die Lamentationen des Böhmen Zelenka schon Wurzeln geschlagen. Damit aber den geneigten Lesern dieses Textes das anno 1722 gestrichene Miserere nicht vorenthalten wird, sei auch dieses fantastische Chorwerk mit empfohlen. Sein Anfang ist fast so packend wie der Beginn von Bachs Johannespassion, die zwei Jahre später entstand. (Karl Böhmer)
Hörbeispiele:
https://www.youtube.com/watch?v=BqvkVFOUOck
Jan Dismas Zelenka: Lamentatio I pro Die Mercuris Sancto (zu den Tenebrae des Gründonnerstags, gesungen am Mittwoch der Karwoche); Tomas Kral, Bariton; Berlin Baroque (Konzertmeisterin Nadja Zwiener), aufgezeichnet beim Festival RheinVokal am 16. Juli 2017 in der Herrnhuter Brüdergemeine in Neuwied.
https://www.youtube.com/watch?v=LBZbd_agPS8
Jan Dismas Zelenka: Lamentatio II pro Die Mercuris Sancto; Larissa Botos, Alt; Parnassi Musici, Leitung: Martin Lutz, aufgezeichnet bei einem Projekt von BarockVokal im März 2020 in der Christophoruskirche Schierstein.
https://www.youtube.com/watch?v=B3F1ajKQRsg
Jan Dismas Zelenka: Miserere c-Moll (Eingangschor); Chor acccentus, insula orchestra, Leitung: Laurence Equilbey (Pariser Philharmonie 2015)