Hier standen sie, auf der Westempore der Leipziger Thomaskirche: die acht Solisten, die im wesentlichen Bachs doppelchörige Matthäuspassion sangen, dahinter die beiden Orchester, auf zwei erhöhten Holzbalkonen zu beiden Seiten aufgestellt (Foto: Wikipedia).

Bachs Matthäuspassion

Jahr für Jahr zieht Bachs Matthäuspassion Zuhörerinnen und Zuhörer auf der ganzen Welt in ihren Bann, Gläubige wie Ungläubige. Wie war das eigentlich damals, bei den ersten Aufführungen des Werkes unter Bachs Leitung?

Leipzig, Karfreitag 1727

„Wenn mir am allerbängsten / Wird um das Herze sein, / So reiß mich aus den Ängsten / Kraft deiner Angst und Pein.“

Zahllose Menschen haben aus diesen Versen von Paul Gerhardt und den wundersamen Harmonien Bachs Trost geschöpft, seit der Thomaskantor am Karfreitag 1727 seine Matthäuspassion in der Leipziger Thomaskirche aus der Taufe hob. Kein Komponist vor oder nach ihm hat die „Angst und Pein“ des Jesus von Nazareth in seinen letzten Stunden in Jerusalem so bewegend dargestellt wie Bach. Die Streicher der Jesusrezitative sind keine Aureole für einen himmlisch erhabenen Gottessohn, sondern sprechende Begleiter eines aufgewühlten, von Angst gequälten Menschen. Seine Ankündigungen des Leidens, das verzweifelte Gebet zum Vater im Garten Gethsemane und die Mahnungen an seine Jünger – all dies spricht seit 295 Jahren auf wundersame Weise zu den Herzen der Zuhörerinnen und Zuhörer, der Gläubigen und Ungläubigen auf der ganzen Welt. Und die Choralstrophen, die diese „Angst und Pein“ kommentieren, sind zu einem musikalischen Brevier der Menschen geworden, auch außerhalb der jährlichen Passionsaufführung - eine innere Stimme, die sie ihr ganzes Leben begleitet.

Tochter Zion und die Gläubigen

Wir wissen nicht, ob die Gemeinde der Thomaskirche das Besondere des Augenblicks spürte, als am 11. April 1727 zum ersten Mal das eigenartige Schwingen des Eingangschors einsetzte, jenes düstere e-Moll-Lamento aus sich verschlingenden Kreuzeslinien über dem unerbittlichen Orgelpunkt. Weil Jesus das Lamm Gottes ist, schwingt der Satz im Takt der Pastorale. Weil die Tochter Zion den Herrn als ihren Bräutigam betrauert, ist sie es, die in der Klage vorangeht:

„Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen! Sehet! – Wen? – Den Bräutigam! Seht ihn! – Wie? – Als wie ein Lamm.“

Der Chor der Gläubigen antwortet, wie die weinenden Frauen am Kreuzweg in Jerusalem. Unter Bachs Leitung sangen keine Frauen, sondern die Knaben der Thomasschule im Sopran und Alt, Studenten im Tenor und Bass. Und es gab auch keinen „Chor“ im heutigen Sinn. Zwar ist die Passion in Chorus primus und Chorus secundus aufgeteilt, doch bezeichnete in Bachs Sprachgebrauch der Ausdruck „das Chor“ jedes musikalische Ensemble, sowohl Sänger als auch Orchester.

Sein Kirchenorchester in Chorus primus und Chorus secundus aufzuteilen, war schon gewagt genug, bedenkt man die Schwierigkeiten, die Bach hatte, mit acht fest angestellten Stadtmusikern auch nur ein Orchester angemessen zu besetzen. Unter den Sängern aber waren die Engpässe noch größer: Nur 17 Thomaner seien zur Figuralmusik zu gebrauchen, schrieb der Thomaskantor 1730 an den Leipziger Stadtrat, und von diesen 17 wurden immer etliche zum Auffüllen der Geigen und Bratschen im Orchester gebraucht. Wenn also der Thomaskantor den Eingangschor der Matthäuspassion als großen Dialog zwischen Chorus primus und Chorus secundus anlegte, dürften im „Chor“ kaum mehr als zweimal vier Sänger gestanden haben. Dies hat der Bachforscher Joshua Rifkin vor nunmehr 40 Jahrten anhand von Bachs Aufführungsstimmen behauptet, und es passt auch zur räumlichen Situation auf der großen Westempore der Thomaskirche: Bach stellte seine vier besten Sänger als Vokalquartett des Chorus primus vorne an die Rampe der Westempore und rechts daneben das etwas schwächere zweite Solistenquartett. Das erste Quartett verkörperte im großen Drama dieser Passion die Tochter Zion, das zweite die Gläubigen. Zwei Knabensoprane, zwei Countertenöre, zwei Tenöre und zwei Bässe sangen die ganze zweieinhalbstündige Passion – alle Teile: Rezitativen und Arie, Chöre und Choräle. Immerhin kamen noch einige Ripiensoprane für den Cantus firmus im Eingangschor hinzu, die auch die Oberstimmen der Choräle verstärken konnten. Und Bach brauchte mehr Bässe als nur zwei, um die Hohenpriester und andere Zeugen der Passion wie Petrus, Pilatus oder Judas zu besetzen.

Die originale Matthäuspassion

Als der amerikanische Musikwissenschaftler Joshua Rifkin Mitte der 1980er Jahre diese These zum ersten Mal aufbrachte – Bachs Matthäuspassion sei ohne einen Chor im heutigen Sinne uraufgeführt worden –, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Bachgemeinde in aller Welt. Der Nimbus des großen Chorwerks war beim Herzstück aller Kirchenchöre zu stark, um die nüchterne Analyse von Bachs Aufführungsmaterial akzeptieren zu können: David gegen Goliath. Vierzig Jahre später hat sich dieser David wenigstens eine Bresche im Musikleben erkämpft: Etliche Aufführungen der Matthäuspassion in Bachs originaler Stimmverteilung haben paradoxerweise bewiesen, dass sie umso schlüssiger und packender wirkt, je kleiner sie besetzt ist. Auch in Mainz war dies zu hören, als das Exzellenzprojekt Barock Vokal am 13. April 2014 seine fast solistisch besetzte Matthäuspassion in der Mainzer Seminarkirche vorstellte, und zwar in der Urfassung von 1727 unter der Leitung von Michael Hofstetter. Für alle Anwesenden war dies ein unvergessliches Erlebnis. 

Bach und seine Sänger

Das digitale Zeitalter eröffnet jedem Bachfreund ungeahnte, neue Perspektiven. Heute kann jeder, der die Website Bach digital besucht, das originale Aufführungsmaterial der Mattthäuspassion selbst studieren – nicht das der Uraufführung, das verloren ist, wohl aber das spätere von 1736, das Bach nach der Niederschrift der berühmten autographen Rheinschriftpartitur erstellen ließ: 

https://www.bach-digital.de/receive/BachDigitalSource_source_00002445.

Was Joshua Rifkin vor 40 Jahren feststellte, wird in den Originalstimmen evident: Unter Bachs Leitung sang der Tenor des ersten Chores nicht nur den Part des Evangelisten, sondern auch den Eingangschor und den Schlusschor, alle Choräle, fast alle Volkschöre und die große, erschütternde Tenorszene im Garten Gethsemane: „O Schmerz – Ich will bei meinem Jesu wachen“. Für so viel Musik auf diesem Niveau brauchte es einen Meistersänger. Wahrscheinlich war dies bei der Uraufführung 1727 Carl Christian Vetter, der Sohn des ehemaligen Organisten der Leipziger Nikolaikirche. Von August 1718 bis Juli 1720 hatte er unter Bachs Leitung am Köthener Hof gewirkt und war dann in seine Vaterstadt zurückgekehrt. Dass er Bachs bevorzugter Tenor war, kann man schon daran erkennen, dass ihn der Thomaskantor im Juli 1724 einlud, ihn und Anna Magdalena nach Köthen zu begleiten. Auf Vetter war Verlass. Ohne ihn wären die Evangelistenpartien der Johannes- und Matthäuspassion vermutlich nicht entstanden und auch nicht die Tenorarien.

Nicht minder sattelfest war Bachs erster Bassist Johann Christoph Lipsius, damals noch Student in Leipzig, doch schon wenig später Hofmusiker in Merseburg. Für ihn hat Bach die Partie des Jesus geschrieben, doch Lipsius hatte wie sein Kollege Vetter auch die Choräle, Volkschöre und Rahmenchöre zu singen. Außerdem standen in seiner Stimme die Bassarien des ersten Chores. Derselbe Sänger, der eben noch als Jesus „aufgetreten“ war, sang zu Beginn des zweiten Teils die Arie „Ach, nun ist mein Jesus hin“, in der Urfassung der Passion noch eine Bassarie. Danach übernahm er das „Komm, süßes Kreuz“ und zum Schluss „Mache dich, mein Herze, rein, ich will Jesum selbst begraben“. Gerade diese beiden Arien, in denen die Nachfolge Christi sinnlich vergegenwärtigt wird, wurden vom Sänger des Jesus gesungen – eine theologisch bezwingende Botschaft, die in gängigen Aufführungen nicht hörbar wird. Sie erspart übrigens dem Sänger des Jesus die undankbare Aufgabe, die zweite Hälfte der Passion nur für drei Rezitative durchzusitzen.

Wer die Matthäuspassion kennt, weiß, dass Bach die größten Arien des Werkes dem Alt anvertraut hat, genauer gesagt: dem Altisten des ersten Chores. Während der Alt des zweiten Chores nur das Rezitativ bei der Geißelung und die Arie „Können Tränen meiner Wangen“ vorzutragen hatte, schrieb Bach für seinen ersten Alt die „Erbarme dich“-Arie und das große Duett "So ist mein Jesus nun gefangen", die Arien „Buß und Reu“ und „Sehet, Jesus hat die Hand“ mit den vorangehenden Rezitativen. Wer dieser besondere Sänger anno 1727 war, kann man zumindest vermuten: höchstwahrscheinlich Bachs Schüler Carl Gotthelf Gerlach. Der Pfarrersohn aus Calbitz wurde am Silvestertag 1704 geboren, war also bei der Uraufführung der Matthäuspassion 22 Jahre alt. Nach seiner Schulzeit als Knabenalt im Thomanerchor begann er just 1727 sein Jurastudium an der Leipziger Universität. So blieb er seinem Lehrer in der Kirchenmusik als Altist, Geiger und Cembalist erhalten. Im Herbst 1726 hatte Bach wohl für ihn drei schwere Solokantaten komponiert (BWV 35, 169, 170). Nun nutzte er die Gunst der Stunde und schrieb für ihn das „Erbarme dich“ und die anderen wunderbaren Altarien der „großen Passion“, wie Bachs Söhne das Werk nannten.

Die Matthäuspassion nach Mendelssohn

Acht Sänger und einige Zusatzstimmen waren es, die anno 1727 den Hauptteil der Matthäuspassion bestritten. Mehr Sänger umfasste Bachs Vokalensemble vermutlich nicht, ein wenig mehr vielleicht 1742, in der letzten belegten Aufführung des Werkes unter seiner Leitung. Danach vergingen 87 Jahre, bis ein junger Berliner sich an die erste Wiederaufführung der Matthäuspassion wagte: Felix Mendelssohn. Er dirigierte sie am 11. und 21. März 1829 im Saal der Berliner Singakademie auf der Berliner Prachtstraße Unter den Linden, im heutigen Maxim Gorki-Theater. Am Karfreitag übernahm ironischerweise sein Lehrer Zelter die Stabführung der dritten Aufführung, obwohl gerade er es war, der als Leiter der Singakademie schwerste Bedenken gegen eine mögliche Wiederaufführung von Bachs großer Passion geäußert hatte. Mendelssohn und sein Freund Eduard Devrient mussten den alten Zelter förmlich überrumpeln, um das gewagte Unterfangen doch noch durchzusetzen. Am Ende bekamen die Berliner die Matthäuspassion so zu hören, wie sie bald ins Musikleben des 19. Jahrhunderts eingehen sollte: als Oratorium im Haydn-Stil mit prominenten Opernsängern und -sängerinnen vorne neben dem Dirigenten und hinten dem großen Doppelchor der Singakademie. Die Sopranistin Anna Milder-Hauptmann und die Altistin Auguste Türrschmidt ließen den Arien allen Schmelz der Belcanto-Ära angedeihen. Eduard Devrient als Christus und der Tenor Heinrich Stümer als Evangelist gestalteten Bach im Duktus von Mozart und Weber, denn Stümer sang 1821 in der Uraufführung von Webers Freischütz den Max. Schon der Stil dieser Sänger war ein völlig anderer als in Bachs Ensemble. Natürlich wurden eigene Tenor- und Bass-Solisten für die Arien engagiert, und natürlich war der Chor von den Solisten streng getrennt. 158 Chormitglieder der Singakademie pressten sich auf das Podium des Saales, und auch das Orchester war groß besetzt. Denn jeder wollte mittun: diese Aufführung war ein großes Miteinander der musikalisch gebildeten Laien und der Profimusiker von Berlin. Mendelssohn ließ den Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ A Cappella singen und strich etliche Arien. All dies hat der Matthäuspassion den Weg in die Herzen der Zuhörer und auf die Podien der Welt geebnet. Und es machte ein Werk, das für Knabensoprane, männliche Altisten, barocke Stadtmusikanten und Studenten geschrieben wurde, zu einer Herzensangelegenheit für Hunderttausende von Laienchören auf der ganzen Welt. Ohne diesen Paradigmenwechsel wäre Bachs „große Passion“ nie zu „der“ Matthäuspassion geworden.

Stilvielfalt

Heute herrscht bei diesem Werk die denkbar größte Vielfalt der Stile, gerade wenn man historische Aufnahmen hinzuzieht. Vom sinfonischen Stil der 1930er bis 1950er Jahre, von Mengelberg und Klemperer, führt der Weg über Richter und Rilling bis hin zu den Protagonisten der Alten Musik. Gemischte Chöre alternieren mit Knabenchören aus den alten und neuen Bundesländern, und es gibt immer mehr Aufnahmen, die Bach und Joshua Rifkin beim Wort nehmen. Wie auch immer Sie am heutigen Karfreitag die Matthäuspassion hören werden, ob Sie sich für Gardiner, Harnoncourt oder Herreweghe entscheiden, für Karajan, Mengelberg oder Klemperer, für Rilling oder Richter, für die Thomaner oder den Windsbacher Knabenchor, für das Dunedin Consort aus Edinburgh oder die Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann – es wird sich hoffentlich in jeder dieser Versionen ereignen, was Bach am wichtigsten war: Die Worte und Töne nehmen uns ins Passionsgeschehen hinein. Sie lassen uns mitleiden und unsere eigene Schuld erkennen. Sie zeigen uns den leidenden Menschensohn und werfen sein mildes Licht in die dunklen Stunden unseres eigenen Lebens – bis hin zum „Wenn ich einmal soll scheiden“. (Karl Böhmer)

Hörtipp:

Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion, BWV 244

Tölzer Knabenchor, Hofkapelle München, Leitung; Christian Fliegner (Südtirol in Concert, 2017)

https://www.youtube.com/watch?v=QrrdWYh9Hwc