Stabat Mater 1772 in München
Die zweite Geschichte unserer musikalischen Osterkalenders erzählt vom 27. März 1772 in München: hoher Besuch aus Dresden, ein Stabat Mater und ein fantastisches Oratorium.
Damenorden in der Theatinerkirche
München, 27. März 1772: Die verwitwete Kurfürstin Maria Antonio Walpurgis von Sachsen, Schwester des Bayerischen Kurfürsten und die berühmteste adlige Komponistin ihrer Zeit, betritt in festlicher Tracht die Münchner Theatinerkirche. An ihrer Seite: ihre Schwägerin Kurfürstin Maria Anna von Bayern. Zusammen mit 28 weiteren hochadligen Damen tragen sie voller Stolz ein Abzeichen auf der Brust: den Orden der „Sklavinnen der Tugend“. Der gleichnamige Damenorden, 1662 von Kaiserin Eleonora von Gonzaga in Wien gegründet und alsbald nach München übertragen, nimmt nur die tugendsamsten und vornehmsten Adelsdamen in seine Reihen auf. Alljährlich feiern die „Sklavinnen der Tugend“ nach Mariä Verkündigung, also mitten in der Fastenzeit, ihr Fest im Herzen Münchens. Touristen, die heutzutage am Odeonsplatz die gewaltige Theatinerkirche betreten, dürften kaum ahnen, wie sehr die weiße Pracht dieses barocken „Theatrums“ im 18. Jahrhundert als Bühne für solche devoten Verrichtungen diente.
Hoffest mitten in der Fastenzeit
Das Ordensfest des Jahres 1772 trägt einen ganz besonderen Charakter: Es ist Teil eines einwöchigen höfischen Festes, das Kurfürst Max Joseph zu Ehren seiner Schwester aus Dresden veranstaltet. Die Mutter des regierenden sächsischen Kurfürsten befindet sich auf Durchreise nach Italien und wird mit allem verwöhnt, was die Hofkultur des späten Rokoko zu bieten hat: Opera buffa im Alten Opernhaus am Salvatorplatz, Opera seria im Cuvilliéstheater, ein Ball zum Geburtstag des Kurfürsten am 28. März und drei Akademien in der Residenz. Mitten in der Fastenzeit wähnen sich die Münchner zurückversetzt in den Fasching, doch das Fest Mariä Verkündigung sorgt immerhin für eine fromme Unterbrechung am 24. und 25. März. Auch der Freitag ist streng der Devotion geweiht – als Sterbetag Christi. Deshalb darf ein abendliches Oratorium nicht fehlen, wie der sächsische Legationssekretär Unger nach Dresden berichtet. Sein französisches Schreiben ist datiert Munic, ce 29. Mars 1772 und findet sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv zu Dresden (Münchener Berichte vom Legationssekretär Unger an die Kurfürstin Witwe Maria Antonia, Vol VI, 1772, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 3292/11):
Am Freitagmorgen nahm Ihre Kurfürstliche Durchlaucht im Habit einer Sklavin der Heiligen Jungfrau Maria an den üblichen devoten Verrichtungen in der Theatinerkirche teil, begleitet von der Kurfürstin von Bayern und von allen Damen des besagten Ordens. Des Abends fand sie sich im Oratorium ein, das im alten Hoftheater aufgeführt wurde.
Stabat Mater in München
Welche Musik anno 1772 zur feierlichen Zeremonie des Damenordens erklang, hat Unger nicht überliefert, es dürfte sich aber um ein Stabat Mater gehandelt haben. Denn die mittelalterliche Sequenz über die leidende Gottesmutter unter dem Kreuz war der klassische Text für marianische Devotion in der Fastenzeit. Nicht nur am Koblenzer Hof, wo Maria Antonias Schwager regierte, gedachte man an jedem Freitag der Fastenzeit der Leiden Christi in modernen Vertonungen dieses Textes. Auch und gerade der bayerische Hof war ein Zentrum der Stabat Mater-Vertonung. Kurfürst Max III. Joseph höchstselbst hatte ein Stabat Mater komponiert, das ihm das Lob aller Kenner einbrachte. Deshalb widmeten diverse italienische Meister dem Kurfürsten ihre eigenen Versionen des berühmten Textes.
Das tragische Stabat Mater des Tommaso Traetta
Die Hörbeispiele für unser heutiges Kalenderblatt verweisen auf zwei dieser Münchner Stabat Mater. Das eine stammt von Tommaso Traetta, 1727 in Bitonto bei Bari geboren und einer der berühmtesten Opernkomponisten der Zeit. Der Mainzer Hofbibliothekar Wilhelm Heinse liebte keine Oper mehr als die Antigona, die Traetta 1772 für Katharina die Große in Petersburg komponierte. In Italien und Wien galt als er Reformer und Antipode Glucks. Wie expressiv sein Stil war, bewies der Vierzigjährige 1767 mit seinem Stabat Mater für München. Im Januar dieses Jahres berichtete Kurfürst Max Joseph voller Stolz an seine Schwester nach Dresden, dass ihm der berühmte Traetta die Karnevalsoper Siroe komponiert habe:
Ich habe ihn engagiert und er wird mir auch ein Stabat Mater für die folgende Fastenzeit schreiben.
Noch heute liegt die Originalpartitur dieses hoch expressiven Werkes in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München. Es ist im großen Stil eines Oratoriums geschrieben, wie Haydns Stabat Mater aus demselben Jahr: für vier Solisten, Chor und Orchester, fast eine volle Stunde lang. In die Partitur hat Traetta die Namen der Münchner Hofsänger eingetragen, für die er die Arien komponiert hat, allen voran den Sopranisten Venanzio Rauzzini. Nach seiner Rückkehr aus München sang der Soprankastrat 1773 in Mailand die Hauptrolle in Mozarts Lucio Silla und das Exsulate jubilate. Er galt als der schönste und virtuoseste Kastrat Italiens, bis er nach England ging, wo ihn noch Haydn besuchte. Beim Eintreffen von Maria Antonia weilte er noch in München, weshalb er am 27. März 1772 wohl die große Sopranpartie in Traettas Stabat Mater in der Theaterkirche gesungen hat. Ein anderer Mozartsänger war der Tenor dieses Werkes: Domenico de’ Panzacchi, 1781 der Arbace im Idomeneo. Der Altkastrat Emiliani und der Bassist Zonca ergänzten das Solistenquartett, das hier in packendem Dialog mit Chor und Orchester geführt wird. Traetta wurde seinem Ruf als Meister des tragischen Stils auch in diesem Werk gerecht.
Das liebliche Stabat Mater des Quirino Gasparini
Sehr viel lieblicher und schlichter klingt das Stabat Mater, das der Turiner Domkapellmeister Quirino Gasparini 1770 dem bayerischen Landesherrn widmete. „Ich habe mich bemüht, in diesem Werk jene schwierige Einfachheit zu wahren, welche die Seele aller nachahmenden Künste ist, und welche die Musik ebenso interessant wie lieblich macht.“ So bekannte der aus Bergamo stammende Komponist in der Widmungsvorrede. Für sein Stabat Mater wählte Gasparini die Tonart Es-Dur und Pastelltöne, unter denen die traurigen Lamentoklänge wie Zwischenfarben aufscheinen, „un effetto curioso di flebilità“, ein „eigenartiger Effekt von Weinerlichkeit“, wie Gasparini an Padre Martini schrieb. Dazu benutzte er die klassische Duett-Besetzung des Pergolesi-Stabat: Sopran, Mezzosopran und Streicher ohne Chor. Im Stil aber wollte er jede Ähnlichkeit mit Pergolesi vermeiden. Gegenüber Padre Martini bekannte er am 14. August 1765: „Ich habe eine Vertonung des Stabat Mater in Es-Dur geschrieben, mit aller gelehrten Leichtigkeit und ganz anderen Wendungen als denen des seligen Pergolesi.“ Durch diesen intimen Stil wirkt das Werk wie geistliche Kammermusik – ein Stabat Mater per camera, wie es 1778 der Bruder des gerade verstorbenen Komponisten nannte, der voller Stolz berichtete, sein Bruder habe dafür vom Kurfürsten eine Goldmedaille mit dessen Porträt erhalten. Max Joseph wusste als Kenner solche Kunst zu schätzen, worauf auch Gasparini in der Widmung zu sprechen kam:
Glücklich die Menschheit, der es gegeben ist, unter der Regierung eines so aufgeklärten Fürsten zu leben. Glücklich die Komponisten, die einen solchen Mäzen haben. Seine Werke offenbaren seine profunden Kenntnisse im weiten Gebiet der Musik.
Biblisches Oratorium von Joseph Michl
Bei dem Oratorium, das an jenem 27. März 1772 im alten Münchner Opernhaus erklang, handelte es sich um Gioas re di Giuda des jungen Komponisten Joseph Michl aus Neumarkt in der Oberpfalz. Als kurfürstlicher Stipendiat wurde er von Max III. Joseph nachhaltig gefördert. Für den Münchner Hof komponierte er erst eine Opera buffa, dann sein großes Oratorium, schließlich 1776 die Opera seria Il trionfo di Clelia. Der englische Musikhistoriker Charles Burney pries die Kammermusik von Joseph Michl, Klarinettisten könnten bei ihm eines der frühesten und schönsten Klarinettenkonzerte der Klassik entdecken. Weil aber die Mozarts wenig von ihm hielten, wurde er auf den undankbaren Posten eines zu Unrecht vergessenen Kleinmeisters der Klassik verwiesen. Sein Oratorium Gioas re di Giuda zeigt ihn in ganz anderem Licht: Die dramatische Geschichte vom Sieg der frommen Juden über die Tyrannin Athalia war in München ein nachhaltiger Erfolg. Am 5. April, zwei Wochen vor Ostern, hörten es der Kurfürst und seine Gemahlin schon zum dritten Mal. Unger berichtete:
Am Sonntag fanden sich ihre Kurfürstliche Hoheiten bei der Aufführung des Oratoriums Gioas von Herrn Michl ein. Das Publikum möchte es immer wieder sehen und hören, denn es ist ein Meisterwerk der Musik.
Münchner Oratorium in Mainz
Auch weit über die Grenzen Münchens hinaus wurde Michls Gioas bekannt. Eine Aufführung in Regensburg ist durch eine Partitur dokumentiert. 1773-74 wurde es in zwei Teilen am Mainzer Hof aufgeführt, wie ein Libretto in der Martinusbibliothek des Bistums Mainz belegt:
Joas, König von Juda. | Musikalisch vorgestellet | in der | Kurfürstlichen Hofkapelle | auf gnädigste Verordnung | Seiner kurfürstlichen Gnaden | Emmerich Joseph, | des heil. Stuhls zu Mainz Erzbischof, | des heil. römischen Reichs durch Germanien Erzkanzler, | und Kurfürst, Bischof zu Worms etc. etc. | nach der Dichtung eingerichtet |von | Herrn Petro Metastasio, gebohrner Romaner. | Die Musik hat aufgesetzt | Herr Joseph Michl. | Mainz, gedruckt in der kurfürstl. privil. Buchdruckerey des Hospitales zum heil. Rochus, | durch Johann Bernard Sichler.
Wie so viele Oratorien des 18. Jahrhunderts, die auf den italienischen Libretti des Wiener Hofdichters Metastasio beruhen, harrt auch dieses Werk noch der Wiederentdeckung. (Karl Böhmer)
Hörbeispiele:
https://www.youtube.com/watch?v=eN9jbbF9ARQ
Tommaso Traetta: Stabat Mater (München 1767)
Les talens lyriques, Christophe Rousset
Maria Espada, Monica Piccinini, Sopran; Milena Storti, Alt; Emiliano Gonzalez Toro, Tenor, Frédéric Caton, Bass
https://www.youtube.com/watch?v=UO4m7NCTobY
Quirino Gasparini: Stabat Mater (Turin 1765)
Isabelle Poulenard, Isabelle Desrochers, Sopran; Ensemble Stradivaria, Daniel Cuiller