Sterkel in Mainz
Ein Stück klassischer Musikgeschichte aus Rheinland-Pfalz wurde am Wochenende bei Villa Musica lebendig:sechs italienische Kanzonetten vom Mainzer Hofkaplan Franz Xaver Sterkel.
Kein Kleinmeister der Klassik
Zu den bedeutendsten Zeitgenossen Mozarts und Beethovens zählte der Mainzer Hofkaplan Franz Xaver Sterkel (1750-1817). Der aus Würzburg stammende Klaviervirtuose und Komponist war nicht nur ein Meister der Instrumentalmusik, dessen Sinfonien in Paris sogar häufiger gespielt wurden als die von Haydn. Er hatte auf seiner langen Italienreise auch einschlägige Erfahrungen in der italienischen Vokalmusik gesammelt, die er mit seiner Opera seria Farnace im Januar 1782 in Neapel krönte. Verschiedene Forscher haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einer kleinen Sterkel-Renaissance beigetragen: Joachim Fischer von der J.F.X.Sterkel-Gesellschaft durch sein Sterkel-Werkverzeichnis und Editionen; Klaus Pietschmann und Axel Beer von der Mainzer Musikwissenschaft durch diverse Sterkel-Tagungen und Forschungsbände; Franz Stephan Pelgen durch die aktuelle Erforschung von Sterkels Italienreise und der Kulturpolitik am Mainzer Hof.
Die Landesstiftung Villa Musica Rheinland-Pfalz hat im Februar 2020, unmittelbar vor dem ersten Corona-Lockdown, mit Aufführungen kammermusikalischer Werke von Sterkel begonnen: Der Mozarteum-Professor Florian Birsak spielte mit jungen Streicherinnen unserer Stiftung ein Klaviertrio und eine Violinsonate. Nun findet diese Initiative ihre Fortsetzung in der Aufführung der Sei Canzonette, die Sterkel 1794 beim Mainzer Schottverlag herausbrachte. Sie werden am Wochenende des 1. Mai in Schloss Engers (Neuwied), im Mainzer Landesmuseum und im CongressForum Frankenthal von jungen Sängerinnen der Mainzer Musikhochschule gesungen. Wieder sitzt Florian Birsak am Hammerflügel. Im Vorfeld hier eine Betrachtung zu Sterkels Opus 34 und den Hintergründen.
Mainz anno 1794
Im Jahr 1794 bot die Stadt Mainz immer noch ein Bild der Verwüstung dar. Die Folgen der Belagerung vom Vorjahr waren überall sichtbar. Einen ganzen Monat lang, vom Johannisfest bis zum 24. Juli 1793, hatten die Preußen und Österreicher ihr vernichtendes Kanonenfeuer auf die goldene Stadt am Rhein gerichtet und Dutzende der schönsten Gebäude zerstört, von den Toten und Verwundeten ganz zu schweigen. Zwar hatte die französische Besatzung aufgegeben, und mit ihr waren auch die Jakobiner der Mainzer Republik abgezogen. Doch die Rückkehr des Kurfürsten Erthal war von einem Ausmaß an Zerstörung begleitet, das selbst den großen Goethe erschütterte. Die Trümmer der Jesuiten- und Liebfrauenkirche, des Annenklosters und der Dompropstei, des Nationaltheaters und des Dalberger Hofs mahnten die Mainzer an die Wechselfälle der Geschichte. Man ging ans Aufräumen und durfte sich in scheinbarer Sicherheit wiegen, ohne zu wissen, wie schnell sich das Blatt am Rhein wieder wenden würde. Auch der Schottverlag im Weihergarten nahm seinen Betrieb wieder auf.
Sei Canzonette von Sterkel
Am 22. September 1794 brachte der Verlag ein schmales, 13 Notenseiten starkes Bändchen mit sechs Canzonette italiane des Mainzer Hofkomponisten Franz Xaver Sterkel heraus. Schon mehr als zwölf Jahre war es her, dass Sterkel auf seiner langen Italienreise das Publikum im Teatro San Carlo zu Neapel mit seiner Opera seria Farnace beeindruckt hatte. Arien daraus hatten sich auch in Deutschland in Abschriften verbreitet und waren etwa am Koblenzer Hof mit Erfolg aufgeführt worden. Der Klaviervirtuose Sterkel war also im Genre der italienischen Opernmusik kein Unbekannter. Der neue Band erinnerte das Publikum daran - durch die Auswahl an klassischen Operntexten und durch den italienischen Vokalstil. Freilich verlagerte Sterkel diese Qualitäten von der Bühne in den Salon, von der Oper in die vokale Kammermusik.
Die Widmungsträgerin
Nicht zufällig widmete Sterkel den Band einer berühmten Musikerin aus Italien, die in Deutschland verheiratet war: Regina Strinasacchi (1764-1839):
Sei
Canzonette
Col’Accompagnamento del Cembalo
Composte e dedicate
Alla Signora Schlik
nata Strinasacchi
dal G.F.Sterkel
Opera 34.
Die in ganz Europa gefeierte Geigerin lebte mittlerweile in Gotha, wo sie 1785 den Cellovirtuosen Johann Konrad Schlick geheiratet hatte. Fortan lenkte das Ehepaar vom ersten Geigen- und Cellopult aus die Geschicke des Orchesters in der kleinen thüringischen Residenzstadt und ging von Zeit zu Zeit auf Konzertreise. Auf diese Weise kamen die Schlicks auch Ende Dezember 1785 nach Salzburg, wo sie Leopold Mozart tief beeindruckten. Sein Sohn hatte die Strinasacchi noch vor ihrer Eheschließung im Frühjahr 1784 in Wien erlebt und für sie in Windeseile seine wunderschöne B-Dur-Violinsonate KV 454 komponiert. Bei der Uraufführung vor Kaiser Joseph II. musste Mozart seinen Part ohne Noten spielen, weil die Zeit gerade noch für das Ausschreiben der Violinstimme gereicht hatte. Als die Strinasacchi 18 Monate später mit ihrem Ehemann in Salzburg auftrat, fällte der sonst so strenge Leopold Mozart ein enthusiastisches Urteil. Der Brief an seine Tochter enthält auch eine sehr anschauliche Beschreibung der Eheleute Schlick:
„Mir thut es Leid, daß du dieses nicht grosse, artige etwa 23 Jahr alte, nicht schandliche sehr geschickte Frauenzimmer nicht gehört hast. Sie spielt keine Note ohne Empfindung, so gar beÿ der Synfonie spielte sie alles mit expression, und ihr Adagio kann kein Mensch mit mehr Empfindung und rührender spielen als sie; ihr ganzes Herz und Seele ist beÿ der Melodie, die sie vorträgt; und eben so schön ist ihr Ton, und auch kraft des Tones. überhaupts finde, daß ein Frauenzimmer, die Talent hat, mehr mit ausdruck spielt; als ein Mannsperson. NB Sie ist die näml: Strinasachi, beÿ deren accademie dein Bruder in Wien nicht nur ein Concert spielte, sondern ihr ein Duetto zu eben dieser accad: componierte mit Cembalo e Violino, und zwar das näml:, so dir mitgebracht habe, das Torricello graviert hat, und deines Mannes favorit ist. Unterdessen war sie, da ich in Wienn war, wieder zu Hause in Mantua, – h: Schlick ein in Saxengottaischen Diensten stehender vortrefflicher Violoncellist, der auch omponiert, nahm sie vor einem paar Monaten zur Frau, und nun reisen sie über Regenspurg nach Hause. Er wird etwa 30 Jahre haben, ein grosser, artiger, nobler Mann.“
„Ihr ganzes Herz und Seele ist beÿ der Melodie.“ Diesen Satz von Leopold Mozart könnte man auch über die sechs Canzonette schreiben, die Sterkel der Strinasacchi widmete. Es ist zwar nicht bekannt, ob sie in Gotha auch als Sängerin auftrat, sie hatte aber am Ospedale della Pietà in Venedig studiert, wo neben dem Geigenunterricht das Singen im Chor und als Solistin obligatorisch war. Also wird Strinasacchi diese sechs kurzen Arien auch selbst gesungen haben.
Die Texte
Alle sechs Texte seiner Canzonette entnahm Sterkel einer berühmten Sammlung von Kanons, die zumeist vom Wiener Hofkapellmeister Antonio Caldara stammten und unter dem Titel Cantici a tre voci als Repertoire für gesellige Hausmusik weit verbreitet waren. Die einfachste Form des geselligen Singens war im späten 18. Jahrhundert immer noch der Kanon. Die genannte Sammlung galt als Klassiker des Genres. Dort hatte Caldara etliche Arientexte des Wiener Hofpoeten Metastasio vertont, aber nicht immer getreu dem Originaltext. Sterkel ünernahm seine sechs Texte mit allen Varianten aus den Caldara-Kanons. Daran kann man seine Quelle erkennen.
Opernszenen und galante Liebesgedichte
Die ersten vier Canzonette beruhen auf Opernszenen von Metastasio. Sterkel nutzte die Gelegenheit, um berühmte Arien aus Alessandro nell’Indie, Demetrio und Ciro neu zu vertonen – quasi als Opernszenen im Miniaturformat. Die letzten beiden Canzonette sind allgemeine Betrachtungen über die Liebe, deren Textdichter unbekannt ist. Die sechs Nummern lassen sich jeweils zu Gegensatzpaaren zusammenordnen.
Die Sammlung beginnt mit einem tief traurigen Andante in g-Moll, der Arie des verzweifelten Gandarte aus dem Alessandro: Ohne seine Erissena kann er nicht leben, deshalb möchte er lieber neben ihr sterben. Sterkel wählte den Duktus eines tragischen Moll-Arioso mit einem Klaviernachspiel, das bis in die tiefste Lage des Hammerflügels hinabsteigt. Erissena antwortet mit einem koketten Allegretto in C-Dur. Sie will von Todesschwüren in der Liebe nichts wissen und nimmt das Verliebtsein eher von seiner vergnüglichen Seite. Ihre schöne, leichte Melodie hat Sterkel seinem berühmten Kollegen Sacchini abgelauscht.
Das wunderschöne Andantino der Nr. 3 enthält das innige Liebesgeständnis des Titelhelden aus dem Demetrio. Dafür wählte Sterkel die empfindsame Tonart E-Dur im Duktus einer Siciliana. Der Feldherr Alceste (in Wahrheit der Königssohn Demetrio) liebt seine Cleonice herzlich und innig. Sie war seine erste große Liebe und wird es immer bleiben. Die persische Prinzessin Arpalice ist dagegen von einer ganz anderen Wahrheit überzeugt: Alle Liebenden haben den Verstand verloren. Eben noch hat sie sich Vorwürfe gemacht, weil sie sich blindlings in den einfachen Hirten Alceo verliebt hatte. Nun stellt sich heraus, dass er in Wahrheit der verschollene Königssohn Ciro ist, der große Perserkönig Cyrus. Gerade hat er um ihre Hand angehalten. Ihr Andante in der Liebestonart A-Dur wird durchweg von aufgeregten Triolen im Klavier getragen.
Nr. 5 ist ein schlichtes Allegretto über ruhigen Achteltriolen in der pastoralen Tonart F-Dur. Alles an seiner Freundin findet der junge Liebhaber ganz großartig: die Liebesschwüre auf ihren Lippen, ihre verliebten Blicke und ihre Aura von Unschuld. Affettuoso steht dagegen über der Schlussnummer des Bandes: Ein Liebender beklagt sich, dass seine Geliebte völlig ungerührt seine Leiden mit ansieht. Die Melodie in der pathetischen Tonart Es-Dur lässt erkennen, dass Sterkel den betreffenden c-Moll-Kanon von Caldara genau studiert hat.
Für die Aufführungen des kommenden Wochenendes werden wir den Originaldruck des Opus 34 von 1794 verwenden, dessen Noten uns dankenswerterweise Joachim Fischer zur Verfügung stellte.
Karl Böhmer