Miles Davis mit Arrangeur Gil Evans in den Columbia Studios, frühe Sechziger Jahre.

Adventskalender NYC 23.8.1962

Jazz Christmas ist bis heute ein lohnendes Geschäft. Doch nicht jede Größe des Jazz war begeistert von der Idee, im Hochsommer Weihnachts-Nummern auf Tonträger einzuspielen. Jascha Krams, Freiwilliger im FSJ Kultur bei der Villa Musica, erzählt, wie es Miles Davis anno 1962 damit erging.

Miles Davis wünscht frohe Weihnachten

von Jascha Krams

Ich hatte einen anstrengenden Tag gehabt, saß nun auf meiner Couch und schenkte mir einen zweiten Drink ein. Mir gegenüber saß Frances. Sie las eine Zeitschrift. Jedenfalls redeten wir nicht miteinander, weil es zurzeit nicht lief zwischen uns. Obwohl ich sie weit mehr als alle meine vorherigen Frauen liebte, hatten wir auch unsere Schwierigkeiten. Sie war auf irgendwelchen Tanzproben und ich meistens im Studio. Wenn uns der Tag noch etwas Energie übrig gelassen hatte, entluden wir uns häufig in heftigen Streitereien. Naja, im Grunde hatten wir es gut miteinander, vielleicht entsprach dieser Unsinn einfach unserem Wesen oder so ähnlich, ist ja auch egal.

Ich nahm einen kräftigen Schluck, während Sonny Rollins jetzt wahrscheinlich unter irgendeiner Brücke in sein Saxophon blies oder einen heiligen Geist traf. Ich fühlte mich auf jeden Fall ziemlich wohl, als plötzlich das Telefon klingelte. Das Telefon stand direkt neben mir, ich musste mich also kaum bewegen, um den Hörer abzunehmen. „Das Schicksal meint es heute wirklich gut mit mir”, dachte ich und ging ran.

„Miles Davis.”

„Hallo Miles, alles klar?”, es war Teo Macero, mein Produzent.

„Alles bestens, Teo. Das Schicksal ist auf meiner Seite,” antwortete ich und zündete eine Zigarette an.

„Es geht um folgendes…”, fuhr er fort, „Columbia will eine Platte mit Weihnachtsliedern. gespielt von den angesagtesten Jazzmusikern des Labels. machen, du sollst also dabei sein. Die stellen sich eine Kollaboration zwischen dir und dem Sänger Bob Dorough vor. Er kümmert sich um Text und Gesang, du sollst mit Gil die Musik übernehmen.” Frances beendete ihre Lektüre und verließ das Zimmer.

„Hör mal Teo, das ist ja alles schön und gut, aber ich halte nicht so viel von Santa, Rentieren und alldem. Warum fragen die nicht einfach einen von Ihren geleckten Weißen, Gene Autry, Elvis oder so? Die bringen da bestimmt den besseren Einsatz. Was Dorough angeht: Seine Platte war in Ordnung, aber wenn er jetzt von Besinnlichkeit und rotnasigen Rentieren singen will, soll das nicht meine Sorge sein.” Frances kam mit einem Getränk zurück und lächelte mir kurz, aber charmant zu.

Sie legte etwas von Strawinsky auf. Ich blickte intensiv in ihre großen dunklen Augen.

„Was soll der Quatsch Miles? Es geht um eine Jazzplatte! Duke Ellington, Dave Brubeck, Lionel Hampton, die sind alle dabei. Du weißt, ich halte ja auch nichts von diesem ganzen Feiertagskommerz, aber die Menschen lieben so etwas. Ich habe schon mit Dorough gesprochen, sein Text ist interessant, sehr zynisch, weit entfernt vom klassischen Weihnachtsrepertoire, das wird dir gefallen. Stell dich jetzt nicht unnötig quer, es geht ja nur um ein Stück. Soll ich vorbeikommen und wir besprechen das nochmal in Ruhe?”

„Bloß nicht.”

Frances stand auf und verließ das Zimmer. Shit, konnte sie nicht einfach mal sitzenbleiben?

„All right, Teo, ich bin dabei. Sorg aber dafür, dass die einen Schlagzeuger anheuern, der das Tempo halten kann. Wenn der Typ das Tempo verschleppt, bin ich sofort weg.”

Ich vertraute Teo und die Sache reizte mich auf gewisse Weise, wenn es auch nur die Ungewissheit war.

„Freut mich, Miles”, Teo klang erleichtert. „Den Studiotermin teile ich dir dann morgen mit.”

Ich verabschiedete mich und legte auf.

„Worum ging es?” fragte Frances, die gerade ins Zimmer kam.

„Das Fest der Liebe und Besinnlichkeit” antwortete ich mit einem vielsagenden Blick.

Ihre Augen waren wirklich verrückt. Sie runzelte die Stirn, vielsagend, hörte noch eine Weile der Musik zu, Petruschka, und ging dann, um sich mit einer Freundin zu treffen. Ich drückte meine Zigarette aus, nahm noch einen großen Schluck aus meinem Drink, das Zeug schmeckte hervorragend, setzte mich ans Klavier und schrieb noch einige Skizzen.

Es war ein heißer Hochsommertag, als ich eine Woche später beim Studio vorfuhr und versuchte, in Weihnachtsstimmung zu kommen. Ich dachte an Tannenbäume, Sternschnuppen, die vollen Herbergen … selbst die Coca Cola Werbung half nichts. Es half alles nichts. „Was soll´s”, dachte ich, wischte mir den Schweiß von der Stirn und stieg aus. Einige der Jungs waren schon da, standen vor dem Gebäude im Schatten, rauchten, machten Witze. Das war das Problem vieler Musiker: ihnen fehlte die notwendige Disziplin. Sie kümmerten sich lieber um ihr Spritzbesteck als um ihre Instrumente. Ständig brachten sie ihre Hörner zum Pfandhaus, weil ihnen das Geld für ihren Shit ausging, oder sie mussten ein paar Tage ins Zuchthaus. Mir war es zeitweise nicht besser ergangen.

Ich grüßte sie und ging dann rein zu den Profis. Da waren Gil Evans und Teo Macero, die das Vorgehen für die Aufnahme verhandelten. Bob Dorough betrat nur kurze Zeit nach mir das Studio.

Wir besprachen Gils Arrangement, er hatte es wie immer sehr gut ausgearbeitet, auch der Text war nicht übel. Dorough nahm diesen ganzen aufgeblasenen Schein von Barmherzigkeit und Liebe richtig aufs Korn. Das gefiel mir. Genau wie die Ironie, dass wir Gier und Kommerzialisierung auf einer Nummer für eine Weihnachtsplatte kritisierten, die keinen anderen Zweck hatte, als Geld in Columbias Kassen zu spülen. „Was ist schon der freie Wille?” dachte ich, als wir die Session begannen. Die Band war wirklich gut, Paul Chambers brachte im Bass wie gewohnt diesen einzigartigen Groove, und der Kerl am Tenor hatte es in sich. Wayne Shorter war sein Name, und ich konnte mich erinnern, dass Trane (John Coltrane) ihn mir vor ein paar Jahren, weil er sich vor einer Konzertreise drücken wollte, als Ersatz empfohlen hatte. Ich ließ mich auf diese Geschichte nicht ein, und Trane musste schlechtgelaunt mitfahren, aber verdammt, dieser Wayne Shorter hatte es richtig drauf. Die Band war also wirklich vernünftig, auch wenn ich lieber Philly Jones am Schlagzeug gehabt hätte. Da der sich jedoch wie gewöhnlich in einer Entzugsklinik befand, war das kein Thema.

So weit, so gut. Dann gab es doch ein Problem.

Es stellte sich heraus, dass Dorough, unser Sänger, überhaupt nicht singen konnte.

Keine Ahnung, wie die Tontechniker das auf seinen vorherigen Platten hinbekommen hatten, er konnte es einfach nicht. Ausdruck und Volumen waren seiner Stimme völlig abhanden gekommen. Außerdem war er immer einen knappen Halbton zu tief. Es brauchte einige Durchgänge, bis alle im Studio das begriffen hatten, und wir gaben uns mit einer Aufnahme zufrieden.

Nachdem Dorough seinen Text heruntergebetet hatte, spielte Shorter ein Solo, und die Band legte ganz gut los. Die Stimmung verbesserte sich mit jedem Ton aus Shorters Instrument, und bald hatten wir diese Weihnachtseskapade fast vergessen. Wir spielten dann noch eine ganze Weile und hatten unseren Spaß. Heute waren wir Dienstleister gewesen, aber Orchestermusiker waren das immer. Verdammt, das ganze Leben war eine Dienstleistung. Was für ein Unsinn.

Dienstleister nehmen dienstleistende Musik auf Platte auf und verurteilen dabei genau dieses Prinzip. Irgendjemand legt den Kram dann auf und fühlt sich unter seinem Christbaum ziemlich rebellisch und klug. Der Markt ist bedient, das Weihnachtsfest gerettet.

Kolumbus entdeckte Amerika und Gershwin den Jazz. Es war immer derselbe Mist.

Ich packte meine Trompete ein, ließ mir Shorters Nummer geben und fuhr nach Hause.

Die Straßen waren ziemlich voll, die Sonne ging gerade unter.

Ich hatte einen anstrengenden Tag gehabt

Anmerkungen:

"Columbia got the bright idea of making an album for Christmas, and they thought it would be hip if I had this silly singer named Bob Dorough on the album, with Gil arranging. We got Wayne Shorter on tenor, Frank Rehak on trombone, and Willie Bobo on bongos, and in August we did this album. The less said about it the better, but it did let me play with Wayne Shorter for the first time, and I really liked what he was into." Miles Davis in his Autobiography

„Columbia hatte die glänzende Idee, ein Album für Weihnachten aufzunehmen, und sie dachten, dass es wohl hip wäre, wenn ich mit diesem albernen Sänger namens Bob Dorough auf ein Arrangement von Gil darauf erscheinen würde. Wir hatten Wayne Shorter am Tenor, Frank Rehak an der Posaune und Willie Bobo an den Bongos, und machten das Album im August. Je weniger wir davon reden, desto besser, aber ich spielte deswegen zum ersten Mal mit Wayne Shorter, und sein Stil gefiel mir wirklich gut.” Miles Davis in seiner Autobiographie

Das Album Jingle Bell Jazz wurde von Columbia Records am 17.10.1962 auf den Markt gebracht.

Zum Hören:

Blue Xmas (To Whom It May Concern), die Nummer des besagten Albums mit Miles Davis und dem Sänger Bob Dorough.

https://www.youtube.com/watch?v=oX985c9z88M

Text/Lyrics: 

https://www.lyrics.com/lyric/5658064/Bob+Dorough/Blue+Xmas+%28To+Whom+It+May+Concern%29